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Studierende gehen gegen eine Arbeitsrechtsnovelle auf die Straße: "Arbeitsrecht: Rückzug!"

Foto: REUTERS/Christian Hartmann

Mitte April, Montag um zwölf Uhr, in einem Raum der Universität Paris 8 Vincennes-Saint-Denis. Das studentische Mobilisierungskomitee will seine Arbeit aufnehmen, als eine Psychologieprofessorin eintritt und ihren Kurs abhalten will.

Zwischen ihr und den Aktivisten entwickelt sich eine rasch lauter werdende Diskussion. Wer soll gehen, wer bleiben? Die Professorin wirft den Aktivisten die "Banalisierung der Lehre" vor, diese fordern, dass auch das Psychologiedepartment in Streik treten solle.

Eine Studentin, die hier ihren Kurs besuchen will, schreit: "Ich bin gegen die Blockaden", als jemand einen Stoß Flugblätter auf einen Aktivisten wirft. Nun ist helle Aufregung im Saal. Der Sicherheitsdienst – seit den Terroranschlägen auf das nahegelegene Stade de France am 13. November 2015 ständig auf dem Campus präsent – wird gerufen. Die Aktivisten gehen in einen anderen Raum, der Kurs beginnt.

Flexibilisierung von Arbeitszeit

Solche Szenen häufen sich dieser Tage auf dem Campus von Paris 8 wie auch an anderen Unis. Studierende und Schüler mobilisieren gegen eine angekündigte Arbeitsrechtsreform, das "loi travail" (der STANDARD berichtete). Der von Arbeitsministerin Myriam El Khomri Anfang März vorgelegte Gesetzesentwurf sieht Flexibilisierungen von Arbeitszeiten und Erleichterungen betriebsbedingter Kündigungen vor. Während die sozialistische Regierung hofft, so zumal der Jugendarbeitslosigkeit zu begegnen, befürchten Studierende in Paris 8 die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse.

Mit rund 25 Prozent ist die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich doppelt so hoch wie die Arbeitslosigkeit der Gesamtbevölkerung. Auch Jungakademiker sind betroffen. Laut dem EU-Bildungsmonitor blieben 2014 ebenso viele Uniabsolventen auch nach drei Jahren ohne Job – doppelt so viele wie in Österreich.

Prekäre Arbeit kennen an der Uni in der Banlieue Saint-Denis viele aus eigener Erfahrung. Der Filmwissenschaftsstudent Antoine Biasibetti liefert Essen mit dem Fahrrad aus. Er hat keinen Arbeitsvertrag, sondern wird als Selbstständiger beschäftigt. Darum hat er keinen Kündigungsschutz, keine geregelten Arbeitszeiten, und es werden keine Sozialversicherungsbeiträge entrichtet, vom niedrigen Lohn abgesehen. "Damit bin ich für den Moment zufrieden", sagt er. "Aber viele fürchten, dass es nach dem Abschluss nicht besser wird."

Unikurse in Eigenregie

Kurz nach Vorlage des Gesetzeswurfs begannen in Paris 8 Streikaktivitäten. Den Startschuss gab am 10. März das Philosophiedepartment. Studierende besetzten einzelne Räume, und die Lehrenden traten in Streik. Wenig später folgten die Departments für Film, für Kunst, Musik und Theater sowie die Politikwissenschaften und Gender-Studies. Lehrende unterrichten nicht mehr und nehmen keine Prüfungen ab.

Stattdessen organisieren Studierende ein alternatives Programm an Kursen und Filmvorführungen in Eigenregie. Das setzt kreative Energie frei. "Ich war niemals so viel an der Uni wie seit der Mobilisierung", sagt Filmwissenschaftsstudentin Félicie Roger. "Wir diskutieren, statt einem Dozenten zuzuhören. Wir sind nicht mehr ängstlich, kritische Fragen zu stellen und die Auseinandersetzung zu suchen. Dabei habe ich viel über meine Kollegen gelernt."

Fast täglich Versammlungen

Seither werden nahezu täglich Versammlungen einzelner Departments oder der gesamten Universität auf Flugblättern angekündigt, die das Mobilisationskomitee organisiert. Abends treffen sich Aktivisten auf der Place de la Republique, wo sich seit dem 31. März eine Bewegung formiert, die sich "Nuit debout" ("Nacht im Stehen") nennt. Der Protest organisiert sich basisdemokratisch und informell und erinnert dabei an Occupy oder #unibrennt. Gebärdensemantik wird eingesetzt, akklamiert wird mit Winkzeichen. Ein Medienkomitee bespielt Twitter- und Youtube-Kanäle und spricht mit Journalisten.

Früh wurde von Versammlungen beschlossen, dass man sich von der größten studentischen Gewerkschaft UNEF nicht vertreten sieht. Obwohl auch die UNEF gegen das "loi travail" mobilisiert, wird sie wegen ihrer Nähe zur Regierungspartei Parti Socialiste von Aktivisten in Paris 8 dem politischen Establishment zugerechnet. Man billige nicht, heißt es in Reden auf Versammlungen, dass sie mit der Regierung über die Reform verhandle, und fordert ihre vollständige Rücknahme.

Gesamte Uni lahmgelegt

Durch die Streiks wurde mehrfach die gesamte Uni lahmgelegt. Studierende blockierten das Tor zum Campus. Durch die letzte Blockade am 14. April kam es zu Einschränkungen bei der Wahl des Unipräsidenten. Studierende fühlen sich dabei nicht ausreichend repräsentiert – ihre Stimmen zählen weniger als jene anderer Gruppen.

Die Streikaktivitäten sind in Paris 8 aber nicht unumstritten. An den Departments Ökonomie, Jus, Psychologie oder Informatik geht der Betrieb weiter. Auch äußern sich einige Studierende negativ über die Blockadeaktivitäten.

Bei der studentischen Mobilisierung geht es längst nicht mehr nur um eine Arbeitsrechtsreform. Diese sehen viele eher als den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Enttäuscht von der marktliberal empfundenen Politik der sozialistischen Regierung, frustriert von wirtschaftlicher Stagnation und sozialer Ungleichheit, manifestiert sich in den Protesten ein Unbehagen am Zustand des Landes und an den eigenen Lebensperspektiven (Miguel de la Riva, 28.4.2016)