Österreich steht wenigstens zur Hälfte unter Schock. Und das nicht ohne Grund. Wenn sich der Triumph des FP-Kandidaten nämlich in vier Wochen fortsetzt, dann stehen wir vor einem politischen Systemwechsel, der die schwarz-blaue Regierungszeit von 2000 weit in den Schatten stellt. Im Rückblick betrachtet, haben die beiden Regierungsparteien unfreiwillig an diesem Erfolg mitgewirkt. Wer in einer extrem schwierigen innenpolitischen Situation mit zwei aussichtslosen Kandidaten getrennt antritt, der muss von allen Geistern verlassen sein. Erinnert sei daran, wie beide Parteien die seinerzeitige Anfrage von Irmgard Griss hochmütig abgelehnt haben, diese als gemeinsame Kandidatin aufzustellen.

Nimmt man arithmetisch die liberalen, christ- und sozialdemokratischen Stimmen der Kandidaten aus der Mitte der Gesellschaft zusammen, dann sind das noch immer mehr als die horrenden 35 Prozent für Hofer. Dass die sich zieren, den einzigen Vertreter einer liberalen Demokratieauffassung offensiv zu unterstützen, wirft kein gutes Licht auf den Zustand der österreichischen Demokratie. Ja, die FPÖ ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, mit dem Ziel, diese nachhaltig zu zertrümmern. Dort und nicht im rot-grünen Fünftel wird unter prekären Umständen über die Zukunft der hiesigen Demokratie entschieden.

Der freundliche Biedermann von nebenan, als der sich Hofer gibt, hat in seinen Wahlkampfauftritten und in Interviews kein Hehl daraus gemacht, dass er das Präsidentenamt dazu nutzen möchte, ein autoritäres System zu etablieren und Regierung und Parlament mit Plebisziten zu überziehen. Er möchte der Realverfassung, die für den Präsidenten nur eine eben repräsentative Rolle vorsieht, den Garaus machen und den HBP, den die FPÖ ja eigentlich abschaffen will, zumindest zeitweilig zum starken Mann umpolen. Dass dabei Hofer das Handelsabkommen mit den USA ins Zentrum rückt, ist ein raffinierter Schachzug, bringt er damit doch die plebiszitären Grünen, die ja ebenfalls gegen TTIP sind, in arge Verlegenheit. Er wird nichts unversucht lassen, Strache vor 2018 an die Macht zu bringen. Mit diesem Wahlsieg, der eine europäische Sogwirkung erzeugte, wäre die FPÖ dem alten Ziel von Haider, der "Dritten Republik", ein Stück weit nähergekommen. Sollte der neofaschistische Coup langfristig gelingen, dann dürfte sich das Lager jener Länder vermehren, in denen eine gelenkte plebiszitäre Demokratie, die Justiz und Medien kontrolliert, am Werk ist.

Erstaunlich, dass sich dieser Erfolg in einem Land ereignet, in dem es keine namhafte Persönlichkeit aus Wissenschaft, Kultur, der Zivilgesellschaft oder sogar der Kirche gibt, die sich vernehmlich für die österreichische Variante des Neofaschismus, ja nicht einmal für konservatives Gedankengut ausspricht. Von kultureller Hegemonie im Sinne Gramscis kann nämlich im Falle der FPÖ keine Rede sein. Warum der grün-liberale Impetus an jenen Schichten fast spurlos vorbeigeht, an die er sich doch (auch) richtet, muss allen zu denken geben.

Zum einen hängt das mit Eigentümlichkeiten der radikalen Rechten zusammen, wie sie der ungarische Soziologe Karl Mannheim schon nach dem Triumph Mussolinis konstatiert hat: Der rechtspopulistische Bewegungsaktionismus ist durch und durch antitheoretisch; ihm genügt der nationale Schlachtruf "Italia" oder "Österreich" vollauf. Zum anderen aber scheint der grelle rot-weiß-rote Patriotismus, auf dessen Wogen die Rechtspopulisten surfen eher auf einem Mangel an einem selbstverständlichen und entspannten "österreichischen" Gemeinsinn zu beruhen und darüber hinaus einem Minderwertigkeitsgefühl zu entspringen. Der nicht nur aus der österreichischen Literatur bekannte "Selbsthass" könnte es sein, der die beiden Lager auf verdrehte Weise miteinander verknüpft.

Die auf Freud zurückgehende Diagnose des Wiederholungszwangs ist hier offenkundig zutreffend. Die unabgegoltene Sehnsucht nach dem Führer ("a klaner Hitler") kehrt in veränderter Gestalt als Obsession wieder, das galt nicht nur für das Italien Berlusconis, das gilt nicht nur für Putins Russland und Orbáns Ungarn, sondern auch für das wohlhabende Österreich, das sich eine kollektive Depression leistet, die sich, ungeachtet aller Schwierigkeiten, einigermaßen absurd ausnimmt. Andere wohlhabende Länder könnten folgen.

Wie üblich werden politische Ereignisse hierzulande ausschließlich in der Dimension des nationalen Sandkastens gesehen. Aus dieser Perspektive erscheint die FPÖ als eine etwas grobe, aber doch normale Partei, nicht aber als Bedrohung einer im umfassenden Sinn demokratischen Verfassung. Das Unbehagen an der Politik, das partiell ein demokratiepolitisches, aber in Gestalt der FPÖ viel eher ein demokratiebedrohliches Potenzial enthält, wird nicht zuletzt in den Medien schöngeredet. Der Kritik aus dem Ausland wird man, wie schon bei Waldheim oder Schwarz-Blau, ganz bestimmt mit "Jetzt erst recht Österreich zuerst" begegnen. Darauf können sich die FPÖ-Strategen verlassen. Österreichs Isolierung und die Schwächung des europäischen Projekts sind auf dem Weg zur Dritten Republik eingeplant.

Mit Blick auf die Kandidatur des angeschlagen wirkenden Van der Bellen gilt das Prinzip Hoffnung. Er muss das schier Unmögliche schaffen, die Wähler der Mitte mit großer Mehrheit für ihn, den urbanen, sanft zynischen Linksliberalen, zu gewinnen. Er muss beträchtliche Errungenschaften der österreichischen Nachkriegsdemokratie gegen die Bonapartisten aus dem "nationalen Lager" verteidigen und zugleich die Wähler davon überzeugen, dass seine Kritik an bestehenden Schieflagen eine Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie und nicht deren "basisdemokratische" Aushebelung impliziert. Nur wenn es gelingt, die Stichwahl als Auseinandersetzung zwischen einem liberalen und einem autoritären Staatsverständnis zu führen, kann sich das Blatt noch wenden. (Wolfgang Müller-Funk, 26.4.2016)