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In dieser Aufnahme aus dem Jahr 2014 protestiert eine islamistische Gruppe in Mosul für die Terrormiliz "Islamischer Staat" – mit deren Fahnen und Slogans.

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Bert Fragner leitete das ÖAW-Institut für Iranistik.

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Rüdiger Lohlker ist Islamwissenschafter an der Uni Wien.

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Rémi Brague ist emeritierter Professor für Philosophie des Mittelalters an der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne.

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Wien – Um die Ursachen des radikalen Islamismus besser verstehen zu können, bedarf es eines Blicks in die Geschichte. So weit ist sich die Fachwelt der Islamforschung einig. Gravierende Meinungsverschiedenheiten gibt es allerdings, was die Interpretation der historischen Wurzeln des Islamismus angeht.

So ist der französische Religionsphilosoph Rémi Brague der Ansicht, dass der Unterschied zwischen Islam und radikalem Islamismus "nur ein gradueller und kein wesentlicher" sei. Für ihn bietet der Islam die "Möglichkeit einer Radikalisierung", oder anders gesagt: "Nicht jeder Muslim ist ein Islamist, aber jeder Islamist ist ein Muslim." Das zeige sich im Koran und anderen Schriften des Islams: "Das, was jetzt im sogenannten 'Islamischen Staat' geschieht, hat seine Quellen in der Biografie des Propheten. Das, was diese Anhänger des IS tun, ist genau das, was Mohammed tun musste, um die Macht zu ergreifen." Brague beruft sich dabei auf die älteste Biografie des Propheten, in der zu lesen sei, Mohammed habe "seine Gegner ermorden lassen – egal, ob es sich um Greise handelte oder Frauen, die ihre Kinder noch stillten".

So könnten die Anhänger des IS "in der Biografie des Propheten wie im Koran und in den Äußerungen, die dem Propheten zugeschrieben werden, alles Nötige finden, um ihr Tun zu rechtfertigen", sagt Brague.

Gezielte Ausbeutung

Der an der Universität Wien tätige Islamwissenschafter Rüdiger Lohlker hält diese Einschätzung allerdings für eine Extremposition. Im Gegensatz zu Brague ist Lohlker der Ansicht, dass radikale Islamisten "die islamische Tradition ganz gezielt ausbeuten, um sich religiöse Legitimität zu verschaffen". So berufe sich etwa "die Subkultur des Jihadismus auf religiös formulierte Vorstellungen, die aber nicht unbedingt viel mit den religiösen Traditionen zu tun haben", sagt Lohlker, der zu dem Thema soeben ein Buch geschrieben hat, das demnächst unter dem Titel "Theologie der Gewalt – das Beispiel IS" erscheint.

Lohlker sieht den radikalen Islamismus vielmehr als ein Ergebnis der Moderne: "Der jihadistische Terrorismus ist das Produkt einer speziellen modernen historischen Situation – und nicht das logische Produkt des Islams, das wäre völlig irrig anzunehmen." So ist seiner Ansicht nach der radikale Islamismus eine historische Antwort auf den Kolonialismus.

Dem kann wiederum Brague nicht zustimmen. Statt Kolonialismus zieht er den Begriff Kolonialisierung vor, denn: "Kolonialismus ist eine Ideologie, die die Kolonisation bejaht und befördert. Kolonisation hingegen ist eine Tatsache, ein historisches Phänomen."

Zur Rolle, die dieses Phänomen für das Entstehen des radikalen Islamismus spielt, sagt Brague: "Man muss fragen: Warum wurde eine Kolonisation überhaupt möglich? Die Dekadenz der islamischen Länder war die Ursache der Kolonisation, nicht deren Wirkung. Die europäischen Mächte haben in Afrika und im Mittleren Osten auch eingreifen können, weil dort der Zustand der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Verhältnisse so armselig war."

Dialog mit Muslimen

Dieser These widerspricht Bert Fragner, ehemaliger Leiter des Instituts für Iranistik der Akademie der Wissenschaften in Wien, vehement, indem er als Ursache des Kolonialismus das "weltweite Wachstums- und Expansionsstreben" der Kolonialmächte sieht.

Fragner bestreitet nicht, dass der Islam die Möglichkeit zur Radikalisierung enthält – das gelte aber auch für andere Religionen, wie sich an christlichen Kreuzzügen oder der brutalen Diktatur in Myanmar, die sich ideologisch aus dem Buddhismus herleitete, zeige. Insgesamt findet er es nicht hilfreich, den Islam für islamistischen Terror verantwortlich zu machen, und plädiert dafür, den Dialog mit Muslimen zu suchen, die den Terror ablehnen und als mit ihren eigenen Prinzipien inkompatibel ansehen. (trat, 29.4.2016)