Das Berliner Indie-Games-Festival begeistert zum fünften Mal das internationale Publikum mit Absurditäten und Experimenten

Die Amaze Berlin, die vom 20. bis 23. April stattfand, hat sich in den fünf Jahren ihres Bestehens zum internationalen Fixpunkt im Indie-Kalender gemausert. Jahr für Jahr strömen Besucherinnen und Besucher aus der ganzen Welt an die Spree, um obskure Games-Experimente auszuprobieren, einer überbordenden Fülle an Vorträgen zu lauschen, Workshops zu besuchen oder schlicht zu feiern. Als Mittelding zwischen Konferenz und Festival positioniert sich das dreitägige Spektakel nach den Worten seines Erfinders und Organisators Thorsten Wiedemann nicht nur klar außerhalb des Games-Mainstreams, sondern auch an den Rändern des zum Massenphänomen aufgestiegenen Indie-Hypes.

"Independent", so Wiedemann bei der Eröffnung, bedeutet für die Amaze nicht nur unabhängig im wirtschaftlichen Sinne, sondern weitaus mehr: Es geht um alternative künstlerische und gesellschaftliche Positionen, um eine Avantgarde im spannendsten Medium der Gegenwart. Die Bilanz: ein neuer Besucherrekord mit über 5.500 Indie-Begeisterten, 41 Talks mit internationalen Vortragenden und neun Workshops sowie stolze Gewinner der auch heuer wieder vergebenen Amaze-Awards. Der GameStandard war vor Ort und präsentiert die zehn spannendsten, seltsamsten und außergewöhnlichsten Spiele der Amaze 2016.

Badblood (Windows, Mac, 7 Euro)

Im tödlichen Local-Multiplayer-Versteckspiel belauern sich zwei Spielerinnen und Spieler im hohen Gras, legen Fallen und schlagen gemein aus dem Hinterhalt zu. Das wunderschön illustrierte und originelle Duell fordert sowohl schnelle Reflexe als auch vorsichtiges Taktieren und schafft das Kunststück, ein hochspannendes Stealth-Spiel am Splitscreen spielbar zu machen.

Winnie Song

Codex Bash

Die Games-Installation für bis zu vier Spieler war – siehe Video – bereits zum zweiten Mal in Berlin zu Gast, überzeugt aber immer noch durch die Mischung aus hirnverknotenden Aufgaben, wachsendem Zeitdruck und originellen Rätseln. Im Spielverlauf wird es zudem nötig, die um die Riesenbuzzer verteilten Hinweisblätter, Disketten und Grafiken nach den korrekten Lösungen für die immer rasanter werdenden Kombinationsaufgaben zu durchforsten.

Alistair Aitcheson

Killbox

Die interaktive Installation zeigt auf originelle Weise die zwei radikal verschiedenen Seiten des US-Drohnenkriegs in Afghanistan und Pakistan: Auf zwei einander gegenüberliegenden Stationen wird sowohl der nüchterne Blick eines militärischen Drohnenpiloten auf ein Dorf mit Terrorverdächtigen als auch der unbeschwerte Alltag eines Kindes in diesem Dorf ermöglicht. Vogel- und Froschperspektive wechseln im Spielverlauf – ein beeindruckendes, düsteres Spiel mit brisantem politischen Hintergrund. Über 3000 Menschen wurden seit 2004 bei Drohnenangriffen getötet – die meisten davon Zivilisten.

Killbox

Genital Jousting (tba, 2016)

Jetzt wird’s schräg: Vier bis acht Spieler treten bei "Genital Jousting" als körperlose, wurmartig kriechende Penisse gegeneinander an, mit dem Ziel, sich gegenseitig zu penetrieren. Was unanständig klingt, erweist sich als höchst unterhaltsames Partyspiel mit Absurditätsbonus. Nicht nur wegen der hübsch mit Puppenkleidern kostümierter Dildos als Eingabegeräte erfreute sich "Genital Jousting" beim Festivalpublikum höchster Beliebtheit und wurde mit dem "Amaze Audience Award" ausgezeichnet.

Jess Joho

Lieve Oma (Windows, Mac, Linux, 4 Euro)

Es sagt schon ein bisschen etwas über die Amaze aus, dass ein Spiel über kriechende Penisse den "Audience Award", ein anderes über die Beziehung eines Spielemachers zu seiner Großmutter hingegen den "WTF?! Award" verliehen bekommt. Wie dem auch sei: Das berührende autobiografische Spiel eines holländischen Entwicklers ist wunderhübsch illustriert und entführt Spielerinnen und Spieler zum Schwammerlsuchen mit Oma in einen herbstlichen Wald.

Florian Veltman

Wurm: Escape from a dying star

Wer sich immer schon wie James Tiberius Kirk fühlen wollte, hatte im passend düsteren Keller der Amaze seine Chance: Die zweiteilige Installation "Wurm: Escape from a Dying Star" versetzt in die Rolle des Maschinisten und des Commanders eines Raumschiffs – einer hat die lebenswichtigen Informationen, der andere sitzt an den Schalthebeln. Das an den ehemaligen Amaze-Gewinner "Spaceteam" erinnernde Konzept ließ besonders durch die nette Kulisse, originelle Eingabegeräte und großen Screen Raumschiffsstimmung aufkommen.

Mónica Rikić

Cobra Club (Windows, Mac, Linux, kostenlos)

Und noch einmal Penisse: "Cobra Club" ist der Welt einziger "Dick Pic Simulator", doch im Unterschied zur Realität des erotischen männlichen Selbstporträts sind den Gestaltungsmöglichkeiten des Geschlechtsteils hier keine Grenzen gesetzt. Nach zufriedenstellender Konfiguration vor dem virtuellen Badezimmerspiegel lassen sich die Bilder speichern – um dann ohne Wissen von Spielerin oder Spieler auf eine Fake-Regierungswebseite hochgeladen zu werden. "Cobra Club" ist nicht nur eine Hommage des schwulen Entwicklers (und diesjährigen Amaze-Keynote-Speakers) Robert Yang an die Kunst des Penis-Selfies, sondern auch ein Kommentar auf Totalüberwachung und Privatsphäre.

Robert Yang

Cosmic Top Secret (tba, 2016/17)

Das "Most Amazing Game" des diesjährigen Festivals ist nach Willen der Juroren "Cosmic Top Secret", eine "playable documentary", die vom Wühlen in den Dokumenten eines ehemaligen dänischen Geheimdienstmitarbeiters im Kalten Krieg, des Vaters der Entwicklerin, erzählt. Mit Originaldokumenten, Puzzles und Telltale-artigen Entscheidungsbäumen verbindet das Spiel eine berührende autobiografische Coming-of-Age-Story mit Zeitgeschichte und Politik.

trine laier

Diorama No 3: The Marchland

VR-Spiele waren überraschenderweise relativ wenige auf der Amaze vertreten, doch mit dem dritten "Shoebox-Diorama" beweist der Gewinner des "Other Worlds"-VR-Awards der Amaze, dass auch ohne Gameplay faszinierende Atmosphären in Reichweite der Entwicklerinnen und Entwickler liegen. Das bewegte Stillleben in einer nächtlichen Mautstation macht Spielerinnen und Spieler zu geisterhaften Voyeuren in einer beeindruckend gestalteten Regennacht.

The Shoebox Diorama

Suck my Rainbow

Das bizarrste Spiel der diesjährigen Amaze war vermutlich die originelle Installation "Suck My Rainbow": Der mit Sensoren und Prozessor aufgemotzte Staubsauger verlangte von Spielerinnen und Spielern, mit konstant wechselnden Farben gefüttert zu werden, die per Farbsensor im Schlauch aus der Umgebung – sprich: von der Kleidung der Besucherinnen und Besucher – "abgesaugt" werden konnten.

Wie jedes Jahr gilt: Nur einige der genannten Spiele werden wegen ihres Installationscharakters wohl jemals in die Hände der Leserschaft gelangen. Schon alleine deshalb zahlt sich der Berlinbesuch für Freundinnen und Freunde des experimentellen Spiels auch nächstes Jahr wieder aus. Die Amaze bleibt die kreativste Spielwiese und das europäische Leuchtfeuer im wachsenden Indie-Zirkus. (Rainer Sigl, 26.4.2016)

Foto: Rainer Sigl