"Welcome Gruppe 47": Die Tagung in Princeton fand von 21. bis 24. April 1966 statt – sie war wohl die prominenteste Klassenfahrt in der deutschsprachigen Literaturgeschichte. Handschriftliche Einladungen und Taschengeld inklusive.

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Hans-Christoph Buch, geb. 1944, lebt in Berlin und Haiti. Zuletzt erschien: "Boat People. Literatur als Geisterschiff" (Frankfurter Verlagsanstalt 2014).

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Jörg Magenau, "Princeton 1966. Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47". € 19,95 / 223 Seiten. Klett-Cotta-Verlag, 2016

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STANDARD: Vor 50 Jahren traf sich die Gruppe 47 in Princeton zu einer Tagung, die inzwischen als legendär gilt. Sie waren damals einer von den ganz jungen Teilnehmern. Welche Erinnerungen haben Sie?

Buch: Obwohl ich so jung war, war das bereits meine vierte Tagung. Ich war 1963 in Saulgau zum ersten Mal dabei, dann in Sigtuna, Schweden, und als Zuhörer, also ohne zu lesen, 1965 in Berlin. Dann kam Princeton. Victor Lange, ein berühmter Exil-Germanist, hatte die Idee gehabt, die deutschen Schriftsteller nach Amerika einzuladen. Aber die Gruppe 47 litt damals schon unter Zerfallserscheinungen. Wir Jüngeren hatten gemischte Gefühle, weil die Gruppe sich zunehmend in eine Literaturbörse verwandelte. Namhafte Kritiker gaben Zensuren und ließen den Kurswert der Autoren je nachdem steigen oder fallen.

STANDARD: Können Sie sich an den ersten Kontakt mit Hans Werner Richter erinnern?

Buch: 1963 bekam ich einen Brief folgenden Inhalts: Sie sind eingeladen zu einer Tagung, Ort ist das Hotel Kleber Post, kümmern Sie sich um Reise und Unterbringung. Damals lernte ich auf einen Schlag Enzensberger, Grass und Johnson kennen, aber auch Johannes Bobrowski, Hans Mayer und Ernst Bloch, der 1963 auch dabei war.

STANDARD: Wie alt waren Sie 1963?

Buch: Ich war 19.

STANDARD: Sie hatten in diesem Alter schon veröffentlicht?

Buch: Ich hatte schon vor dem Abitur Kurzgeschichten unter dem Einfluss von Kafka, Robert Walser und Peter Weiss geschrieben, den ich in Stockholm besuchte. 1963 schaffte ich es mit dieser frühen Prosa in den Sammelband Vorzeichen 2, herausgegeben von Martin Walser. Walser überwarf sich später mit der Gruppe 47, deswegen verdankte ich meine Einladung wohl Siegfried Unseld, dem Suhrkamp-Chef.

STANDARD: Nach Princeton mussten Sie sich auch selber um die Reise kümmern?

Buch: Für Princeton bekam man ein Flugticket spendiert, und während des Aufenthalts gab es Taschengeld in Dollar. Ein Dollar war damals vier Mark wert, also sehr viel. Ich war noch nie in Amerika gewesen und fand mich wieder in New York. Grass und (der Verleger Klaus, Anm.) Wagenbach kamen mit einem italienischen Passagierdampfer, der unterwegs fast untergegangen wäre. Die Tagung stand von Beginn an unter Druck, denn viele Autoren hatten Vorbehalte gegen die USA wegen des Vietnamkriegs.

STANDARD: Peter Weiss war der Antipode von Günter Grass.

Buch: Unbedingt. Peter Weiss war sehr zurückhaltend, geradezu scheu. Seine frühe Prosa war noch unpolitisch, aber sein Stück Marat/Sade (1964) war ein großer Wurf. Grass war grün im Gesicht vor Neid deswegen und hat dann gleich nachgelegt mit Die Plebejer proben den Aufstand, in dem Brecht 1953 Shakespeares Coriolan am Deutschen Theater inszeniert. Das war offensichtlich aus der Rivalität entstanden. Peter Weiss war in seinem Engagement manchmal hölzern, dabei aber eine bewunderungswürdige Figur. Ich weiß noch, dass er in Princeton eine Rede hielt über seine literarische Arbeit, die nur von "occasional lovemaking" unterbrochen würde. Das hat mich als jungen Mann beeindruckt. Ob das "lovemaking" dann zugunsten des stärker werdenden Engagements zurücktrat, blieb unklar.

STANDARD: Die Gruppe 47 war eine ziemliche Männergruppe.

Buch: Es gab wenige Frauen, und die wurden umlagert. In Princeton kam Susan Sontag zu Besuch. Sie war sehr beeindruckend, ich habe mich damals in sie verliebt, es war einfach umwerfend, diese schöne Frau so klug reden zu hören. Es gab auch einige deutsche Autorinnen, hinter denen waren viele Teilnehmer schamlos her, nachts wurde an die Zimmertür geklopft oder gekratzt, um Einlass zu finden. Die Atmosphäre war gespannt, weil für jeden, der las, viel auf dem Spiel stand. Gabriele Wohmann hat einen schönen Text gelesen, der ungnädig beurteilt wurde, denn Beziehungsfragen galten als unangebracht gegenüber politischen Themen wie Vietnam.

STANDARD: War Marcel Reich-Ranicki damals schon der streitlustige Kritiker, als den wir ihn später kennengelernt haben?

Buch: Ganz genau. Er war mein Feind, er raufte sich immer die Haare, wenn ich was vorlas, und hat grob argumentiert. Er hatte einen Mut zum scharfen Urteil, den andere vermissen ließen. Hans Mayer hat alles historisch aufgelöst, er hat auch Peter Handkes Wutausbruch am Ende der Tagung literaturkritisch interpretiert. Reich-Ranicki sprach dagegen immer als Anwalt des gesunden Menschenverstandes und hat die Literatur auf ihren Gebrauchswert reduziert.

STANDARD: Sie teilten mit Peter Handke ein Zimmer. Wie kann man sich das konkret vorstellen? War er für Small Talk zu haben, oder gar für jugendliche Scherze?

Buch: Ich war sehr überrascht, als er in mein Zimmer kam. Aber es blieb nichts anderes übrig, das Holiday Inn war vollkommen ausgelastet. Handke wirkte auf mich schüchtern, er sprach wenig, ganz zum Schluss aber, als ich las, hat er meine wahrscheinlich insgesamt missglückte Satire auf die Gruppe 47 gelobt. Er nervte mich, weil er das Licht nicht ausmachte und nachts mehrfach duschte und unentwegt las.

STANDARD: Handke hielt in Princeton eine Wutrede, die heute vor allem in Erinnerung ist.

Buch: Seine Vorwürfe haben mich überrascht. Wir Jüngeren fanden alle, das geht nicht so weiter, aber Handkes Angriff war uns zu pauschal. Er hat alle in einen Topf geworfen und etwas von Beschreibungsimpotenz, fast würde ich sagen: geraunt. Handkes Philippika wollte ich beantworten, aber da hat Richter gesagt, jetzt reicht's: nicht auch noch Buch. Die Medien haben Handkes Beitrag zum Thema dieser Tagung gemacht.

STANDARD: Wohl auch, weil er den Appeal eines Popstars hatte.

Buch: Er trug damals eine Kapitänsmütze, und vergleichsweise lange Haare. Die Beatles-Frisuren gingen ja nur bis über die Ohren. Handke verblüffte alle durch seine Kenntnis der Musik, er kannte mehr als nur die aktuellen Hits. Und er las Krimis. Da war er uns auch ein bisschen voraus.

STANDARD: 1966 war die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland an einem wichtigen Punkt. Spielte das auch in die Gruppe 47 hinein? Gab es Kontakt zu den jüdischen Stars in Amerika, wie Philip Roth oder Saul Bellow?

Buch: Das ist ein wunder Punkt. Es gab kaum Kontakt, außer bei einer Party, bei der Allen Ginsberg im Nebenzimmer Sex hatte, ohne sich dabei stören zu lassen, wenn jemand die Tür öffnete. Die Deutschen sprachen nicht gut Englisch, die New Yorker kein Deutsch, es gab ein paar Vermittler, jüdische Emigranten aus Nazideutschland, von denen lasen auch einige und fielen vollkommen durch. Das war schnöde, wie die abgefertigt wurden. Ihre Sprache war mit der zeitgenössischen Sprache der BRD nicht mehr kompatibel. Aber die Gruppe 47 hatte sich im Grunde schon zehn Jahre davor gegenüber den Emigranten verschlossen.

STANDARD: Gab es später noch Kontakt zu den Größen des Betriebs? Zum Beispiel Reich-Ranicki?

Buch: Zu Reich-Ranicki habe ich noch eine schöne Geschichte. Auf dem Rückweg von der Tagung in Schweden 1964 machte er Station in Kopenhagen und lernte dort den deutschen Botschafter kennen. Es handelte sich um meinen Vater. Sie kamen natürlich auf mich zu sprechen, und Reich-Ranicki hielt mit seinem Urteil nicht hinter dem Berg: vollkommen unbegabt. Mein Vater antwortete: Das finde ich auch. Die beiden haben sich angefreundet. Später habe ich mich selbst mit Reich-Ranicki angefreundet, was ich nie gedacht hätte, denn er ging mir so auf den Geist mit seinen Plattitüden. Aber er hatte ein stupendes Gedächtnis, und irgendwann habe ich erkannt, dass er Sinn für Humor hatte. Dass er der führende, wenn auch umstrittenste Kritiker der BRD wurde, war für ihn eine Wiedergutmachung für das, was er im Warschauer Getto erlitten hatte.

STANDARD: Hatten Sie 1966 persönlich schon das Gefühl zu wissen, wohin es für Sie als Autor gehen könnte?

Buch: Ich habe damals experimentiert und aufgeblickt zu einem Autor wie Peter Weiss. Als die Gruppe 47 sich auflöste, hatte ich nicht das Gefühl eines Verlusts. Die 68er-Revolte hat mich dann bald gepackt und aus der Bahn geworfen. Jahrelang habe ich Literaturtheorie und -kritik betrieben, erst in den 70er-Jahren entwickelte ich einen eigenen Stil. Das war auf eine Reise nach Haiti zurückzuführen, wo ich familiäre Wurzeln hatte. Plötzlich hatte ich mein Thema, dem ich nicht mehr ausweichen konnte. (Bert Rebhandl, Album, 22.4.2016)