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Die Ökonomie befindet sich heute in einem Zustand wie seinerzeit die Alchemie. Im Bild ein Kunstwerk von Monir Shahroudy Farmanfarmaian bei Sotheby's aus der Reihe "Alchemy: Objects of Desire".

Foto: AP/Kirsty Wigglesworth

Die scharfen Angriffe einer Gruppe von Ökonomen auf Christian Felber und die von ihm propagierte Gemeinwohlökonomie dürfen nicht unwidersprochen bleiben. Einerseits hat die Gemeinwohlökonomie sehr wohl eine theoretische Grundlage, und andererseits offenbart das Verhalten der Ökonomen eher ihre eigenen Schwächen, als dass es der Verteidigung der Ökonomie als Wissenschaft dient. Neun Punkte zur Kritik an der Ökonomie.

Die wertfreie Wissenschaft

1. Die heutige Ökonomie definiert sich als wertfreie Wissenschaft. Das ist zunächst grundsätzlich in Ordnung. Neben nicht wertenden Analysen über die Funktionsweise der Wirtschaft sind aber vor allem auch alle Aussagen der Kategorie "Wenn ich das Ziel A erreichen möchte, muss ich die Maßnahme B treffen" jedenfalls wertfrei, auch wenn das Ziel A selbst einer Werthaltung entspricht. Eine vermutlich von vielen, aber sicher nicht allen Menschen getragene Werthaltung und damit ein von vielen angestrebtes Ziel ist "dauerhafter materieller Wohlstand für alle".

2. Ein wesentlicher Vorwurf an die Ökonomie als Wissenschaft besteht darin, dass unter dem Vorwand der Wertefreiheit bei vorgeschlagenen Maßnahmen das grundlegende Ziel beziehungsweise die grundlegende Werthaltung, die damit verfolgt wird, nicht offengelegt wird. Insbesondere das "Prinzip Konkurrenz" wird in fast allen Bereichen dem "Prinzip Kooperation" als überlegen betrachtet, ohne darzulegen, im Hinblick auf welches Ziel Konkurrenz als überlegen betrachtet wird – und insbesondere auch ohne ausreichende Begründung. Weiters macht die Ökonomie als Wissenschaft keine klaren Aussagen, welche Maßnahmen notwendig sind, um das klar formulierte Ziel eines "dauerhaften materiellen Wohlstands für alle" zu erreichen.

Die Gefangenendilemma-Situation

3. Eine Gefangenendilemma-Situation ist dadurch charakterisiert, dass rationales eigennütziges Verhalten zur insgesamt schlechtesten Lösung für alle Akteure führt.

4. Eine meiner Grundthesen ist, dass religiöse und staatliche Normen in der überwiegenden Zahl der Fälle Maßnahmen zur Überwindung dieser Gefangenendilemma-Situationen in der menschlichen Gesellschaft sind, indem sie den Gesamtnutzen über den Einzelnutzen stellen (zum Beispiel die Norm "Du sollst nicht töten"). Offensichtlich braucht das gedeihliche Zusammenleben der Menschen viele solcher Normen, woraus sich schließen lässt, dass beim Zusammenleben von Menschen Gefangenendilemma-Situationen sehr häufig auftreten.

Gesamtnutzen über Einzelnutzen

5. Eine weitere meiner Grundthesen ist, dass die Wettbewerbsdoktrin in der Ökonomie langfristig zwangsläufig zu Gefangenendilemma-Situationen führt. Um diese Gefangenendilemma-Situationen zu überwinden, muss daher auch in der Ökonomie der Gesamtnutzen über den Einzelnutzen gestellt werden. Genau das ist der theoretische Hintergrund der Gemeinwohlökonomie. Die heutigen Gesetze zur Regulierung der Märkte sind aber keine Normen, die das Gemeinwohl über das Einzelwohl stellen, sondern nur Regeln für die Waffengleichheit, so wie dies früher die Regeln für ein Duell waren: "Du darfst töten, aber nur, wenn Waffengleichheit besteht."

6. Die Gemeinwohlökonomie hat also sehr wohl eine theoretische ökonomische Fundierung. Es ist das Verdienst von Christian Felber, für eine Vielzahl von Einzelsituationen Vorschläge erarbeitet und zur Diskussion gestellt zu haben, durch welche in der Wirtschaft der Gesamtnutzen über den Einzelnutzen gestellt werden könnte. Dabei ist es völlig zweitrangig, wie viele dieser Vorschläge gut, verbesserungswürdig oder schlecht sind. Auch viele Vorschläge von Ökonomen sind gut oder verbesserungswürdig oder schlecht. Aber allein schon, dass eine Liste von theoretischen Vorschlägen dafür erstellt wurde, kann als grundlegender Fortschritt betrachtet werden, denn in der Ökonomie sind bisher grundsätzliche Normen, die zu einer Optimierung des Gesamtnutzens führen, kaum diskutiert worden. Das Werk der Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Es beschränkt sich allerdings vor allem nur auf Gemeinschaftsgüter (commons).

Die Zäsur

7. In der historischen Entwicklung der meisten Wissenschaften stellte die Formulierung der theoretischen Grundgesetze eine Zäsur dar. Erklärt sei das am Beispiel der Chemie, wo die chemischen Grundgesetze zwischen 1789 (Gesetz der Erhaltung der Masse) und 1808 (Gesetz der multiplen Proportion) die Basis für die Atomtheorie und damit die wissenschaftliche Basis der Chemie gelegt haben. Vor der Entdeckung dieser Grundgesetze befand sich die Chemie im Stadium der Alchemie, also im Stadium einer Glaubenslehre. Das heißt nicht, dass die Alchemisten dümmer waren als die nachfolgenden Chemiker, aber ihre wissenschaftliche Leistung bestand eben nicht in einem Erkenntnisgewinn, sondern vor allem nur in der deskriptiven Beschreibung der chemischen Vorgänge. Je komplexer ein Gebiet ist, desto später wurden historisch gesehen die entsprechenden Grundgesetze entdeckt: zum Beispiel für die klassische Mechanik die Newton'schen Gesetze 1687, für die Elektrodynamik die Maxwell'schen Gesetze 1865, für die Genetik die Mendel'schen Gesetze 1866, die Struktur der DNA 1953 und die Entschlüsselung des genetischen Codes 1966.

8. Weil die Ökonomie besonders komplex ist, sind deren grundlegende Gesetze daher bis heute noch nicht formuliert. Die Ökonomie befindet sich heute in einem Zustand wie seinerzeit die Alchemie. Die wissenschaftlichen Leistungen bestehen vor allem in der Beschreibung der Ökonomie und nicht in grundlegenden Erkenntnissen über ihre Funktionsweise. Das, was heute ökonomische Theorien genannt wird, sind keine Theorien, sondern sich widersprechende Glaubenslehren, so wie die "Phlogistontheorie" eine der Glaubenslehren der Alchemisten war. Ein schlagendes Indiz dafür ist die Verleihung des Nobelpreises für Ökonomie im Jahr 2013 an Eugene Fama und Robert Shiller für zwei sich vollkommen widersprechende "Theorien".

Grundgesetze formulieren

9. Ich bin überzeugt, dass auch die Ökonomie irgendwann in der Zukunft die Grundgesetze der Ökonomie formulieren können wird und damit den Übergang von einer Glaubenslehre zu einer Wissenschaft vollziehen wird. Aber solange sie sich noch im Stadium einer Glaubenslehre befindet, wird sie sich auch so gegen Ketzer verhalten, wie dies einer Religion entspricht: Ketzer müssen zum Schweigen gebracht werden, und dabei ist jedes Mittel recht. (Erhard Glötzl, 21.4.2016)