Das Internat in der Stadt Nowoajdar in der Ostukraine ist nur wenige Kilometer von der Front entfernt. Witali und Sirioga haben Asthma und bekommen gerade eine Behandlung. Neben der Krankheit prägen Soldaten und Waffen den Alltag.

Foto: Julia Schilly

30 Jahre sind vergangen, aber viele Menschen der Ukraine haben noch immer ein schweres Erbe zu tragen: Hunderttausende wurden nach dem GAU im Atomkraft Tschernobyl für Aufräum- und Sicherheitsarbeiten eingesetzt. Anfang der 90er-Jahre stieg die Krebsrate sprunghaft an. Überlebende erkrankten etwa an Schilddrüsenkrebs und vor allem Kinder an Leukämie. Gerade die Ostukraine ist besonders betroffen: Denn zusätzlich zur radioaktiven Verstrahlung verseuchen die Altlasten des jahrzehntelangen Bergbaus und die Abfälle der Chemieindustrie den Boden und das Grundwasser massiv. Die Umweltschutzorganisation Global 2000 ergänzt daher seit 1995 ihre Antiatomkraftarbeit mit dem Sozialprojekt "Tschernobyl-Kinder".

"In der Region Luhansk stieg die Zahl der Ersterkrankungen von Kindern und Jugendlichen jährlich um 30 Prozent", berichtet Christoph Otto, der von Beginn an für das Projekt verantwortlich ist. Zudem haben viele Kinder ein schwaches Immunsystem: Sie werden mit Krankheiten kaum fertig, sie haben Tumoren, Erkrankungen der Atemwege, Augen, Muskeln und Haut. Im Rahmen des Hilfsprogramms werden Kinderheime und Spitäler mit Medikamenten und medizinischen Geräten, Hilfsgütern und Trinkwasseraufbereitungsanlagen versorgt. Die Stadt Wien spendete einige dieser Anlagen. Zudem gibt es für 150 Kinder jedes Jahr Erholungsaufenthalte in Österreich. Zudem werden komplizierte Operationen und Behandlungen bei Krebserkrankungen im Ausland ermöglicht.

Der nicht weit entfernte Krieg ist eine neue, große Belastung für die Menschen der Ostukraine. Um ihre Situation besser zu verstehen, muss man von Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, nur wenige Kilometer mit dem Auto nach Osten in die Stadt Nowoajdar fahren. Sie liegt nur 15 Kilometer von der aktuellen Front entfernt. Dort steht ein Internat für Kinder mit besonderen medizinischen Bedürfnissen oder Kinder, die ihre Eltern im Krieg verloren haben. Die Fahrt dauert Stunden, acht Straßensperren der ukrainischen Armee müssen passiert werden, die Straßen sind mit Schlaglöchern durchzogen.

Minen im Wald und auf den Wiesen

Die meisten Kinder im Internat, das von Global 2000 unterstützt wird, haben Atemwegserkrankungen und motorische Störungen. Im Moment leben hier 265 Kinder, 44 Kinder kamen aus vom Krieg betroffenen Gebieten, sieben sind Waisen. Der Krieg ist ihr Alltag. Ihr Leben findet vor allem innerhalb der Internatsmauern statt, in den Wäldern und Wiesen streunen nur noch die Hunde. Denn in der sehr nährstoffreichen schwarzen Erde liegen Minen. Auch drinnen ist der Krieg sichtbar: Soldaten mit umgehängten Kalaschnikows bewohnen die Gebäude.

Das Internat ist seit Ausbruch des Konflikts in das Zentrum geopolitischer Interessen geraten. Vergangenen Sommer lebten noch 180 Soldaten auf dem Areal, heute sind es noch 35. Sie nutzen sowohl die Nähe zur Front als auch die vorhandene Infrastruktur. Der zwölfjährige Dimitri kommt aus der Region Luhansk und erzählt: "Wir unterhalten uns viel mit den Soldaten, besonders über Fußball." Die Erzieherinnen erzählen hingegen, dass eines der Lieblingsthemen der Buben mittlerweile Waffentypen sind.

Die Kriegstraumata der Kinder sind sichtbar: Sie haben Bluthochdruck, Depressionen, sprechen nicht mehr. "Einmal sind die Fenster geborsten, weil die Beschüsse so laut waren", berichtet Internatsleiterin Anna Biryukowa von einem Vorfall im vergangenen Sommer. Offene Kritik übt sie nicht an der Situation: Man habe sich mit den Soldaten arrangiert, und man gewöhne sich an die ständige Angst, versichert sie. Doch dann öffnet sie sich doch ein wenig: "Alle sind müde von der Situation hier; so viel Militär." Dann verstummt sie.

Pro Kind stehen nur 38 Cent pro Monat für die Krankenversorgung zur Verfügung. Durch den Krieg ist die finanzielle Lage noch prekärer geworden. (Julia Schilly aus Nowoajdar, 21.4.2016)