Das mit dem nicht laufen Können ist natürlich mühsam. Weil das ein bisserl so ist wie mit Spielsüchtigen oder Alkoholkranken: Wenn es gilt, ein über Jahre immer wieder latent vorhandenes Problem an der Wurzel zu packen, genügt es nicht, die Dosis zu reduzieren, bis die Symptome ein bisserl abklingen. Das kann man ein paar Mal probieren – und manchmal haut es auch hin. Aber irgendwann hilft das dann nicht – und dann muss die Axt her: null statt wenig. Auch wenn es schwerfällt. Suchtverhalten ist Suchtverhalten, und Entzug Entzug. Denn es ist kein Zufall, dass die Wunder-Erzählungen in den Biografien etlicher Extrem- und Ausdauerläufer regelmäßig mit Saulus-Paulus-Geschichten beginnen: Das Loslösen von einer Sucht funktioniert eben am besten, wenn man sie durch eine andere ersetzt.

Blöd nur, wenn einem dieser Fluchtweg dann plötzlich verstellt ist. Und man, so wie ich derzeit, nicht laufen darf.

Foto: Thomas Rottenberg

Was genau ich mir da eingetreten habe, werde ich hier und jetzt nicht erörtern. Nur so viel: Das Grundübel schleppe ich schon lange mit mir herum. Es stammt aus einer Zeit, in der ich von Sport im Allgemeinen und Laufen im Besonderen nichts wusste und auch nichts wissen wollte. Saulus-Paulus. In der Lightversion.

Andererseits hat die Laufpause auch ihre Vorteile. Etwa die, dass die "Das geht sich heute nimmer aus"-Ausrede wegfällt. Mit der schieben viele Läufer – Männer weit öfter als Frauen – nämlich das weg, was neben dem reinen Herumgerenne halt auch dazugehört: Dehnen, Gymnastik, Stabilitäts- und spezifisches Krafttraining nämlich. Und dafür habe ich jetzt nicht nur Zeit, sondern auch die Motivation: Die MFT-Platte – vulgo "Wackelbrett" – hatte sich schon an ihr Leben als Blumentopfuntersetzer gewöhnt gehabt. Jetzt wurde sie reaktiviert.

Foto: Thomas Rottenberg

Das gleiche gilt für meine "Blackrole": Dass das "Ausquetschen" der Faszien mit der harten Schaumstoffrolle genau dort am meisten weh tut, wo man es auch am meisten braucht, hatte ich natürlich auch gewusst, als ich das Teil vor Jahren gekauft hatte. Aber weil "besser wissen" noch lange nicht "besser machen" bedeutet, fristete das schwarze Ding lange Zeit ein trauriges Leben als Kaffeehäferlhalter neben dem Sofa. Ab und zu war es beim Fernsehen auch Nackenstütze. Aber verwendet? Nun ja … Das gilt genauso für Theraband, Gymnastikmatte und Co – und die 1.000 Anleitungen für Dehnungs- und sonstige Übungen: Dass das Zeug sinnvoll und hilfreich ist? Ja eh. Aber es ist halt auch fad. Unendlich fad. Aber manche Leute lernen eben nur auf die harte Tour. Jetzt nämlich.

Foto: Thomas Rottenberg

Apropos "fad": Der Reiz der Cardio-Geräte im Fitnesscenter hat sich mir nie wirklich erschlossen. Laufbänder. Crosstrainer. Sitzräder. Stepper. Wenn ich fernsehen will, setze ich mich daheim aufs Sofa. Und hole mir eine Familienpackung Eis.

Ganz besonders gilt das "fad" aber für Spinningräder: Den Sinn und den Benefit des Rennradfahrens mit Schwungscheibe kann ich natürlich nachvollziehen. Aber trotzdem: Wenn ich Rad fahren will, will ich Rad fahren. Andererseits: Normalerweise gehe ich vor dem Weg in die Fabrik eben eine Dreiviertelstunde laufen. Für diese kurze Zeit zahlt sich das Reifenaufpumpen nicht aus: Wenn laufen nicht geht, geht zumindest Spinning. Die Physiotherapeutin hat es ausdrücklich empfohlen: Dabei kann man sich nämlich schon auch richtig auspowern …

Foto: Thomas Rottenberg

… und danach gleich einen Schritt weiter gehen: Ins Planschbecken nämlich. Schwimmen darf ich. Ich kann es zwar nicht wirklich – aber das hat mich bei Dingen, die ich gerne mache, noch nie gestört. Und je öfter ich im Wasser bin, umso mehr merke ich, wie gerne ich schwimme. Und wie gut es mir tut. Im Kopf. Weil es etwas Meditatives hat, wenn man in einem 25-Meter-Becken so lange hin und her pendelt, bis man insgesamt einen, zwei oder drei Kilometer abgespult hat. Abgesehen davon tut es – no na – auch dem Körper gut. Und ganz nebenbei genau dort, wo Laufen jetzt eher blöd wäre.

Foto: Thomas Rottenberg

Ärgerlich am Nicht-Laufen ist aber noch etwas ganz Anderes: Jetzt, nach den ersten großen Frühlingsläufen, suchen viele Läufer nach neuen Aufgaben. Und die Industrie tut das ihre dazu, den Leuten darauf Lust zu machen. Lust durch Ausrüstung. Dass das – auch – dadurch verstärkt wird, indem man Meinungsmacher und Multiplikatoren mit dem "neuen heißen Scheiß" ausstattet und hofft, dass diese Leute dann drüber schreiben oder das Zeug zumindest auf Fotos spazieren tragen, ist kein Geheimnis. Und so stapelt sich das ungetragene Lauf-Zeug daheim: Das winddichte Shirt, das sich wie ein normales Laufleiberl anfühlen soll. Die Combo aus Trailrucksack, Thermo-Trailjacke und Trailschuhen, die das Einladungsschreiben zum Trail-Workshop in den Bergen begleitete. Die ebenfalls vorab verschickten, superleichten anderen Schuhe, die Teil der Einladung zum Test-Spektakel bei einem der neuen Wiener Laufschuhshops waren (und wohl nicht ganz zufällig derzeit in 1001 Laufblogs auftauchen): All das liegt beleidigt-anklagend daheim herum – und es sind weniger die PR-Leute, als ich selbst, dem dieses Nicht-Ausprobieren die Stimmung versaut.

Foto: Thomas Rottenberg

Wenn man nicht läuft, aber ständig übers Laufen redet und liest, fällt derzeit relativ rasch noch etwas auf: T-Worte sind omnipräsent. "Trail" kommt derzeit öfter als "Tri" – und zwar in den seltsamsten Kombinationen: Mit dem Präfix lässt sich derzeit scheinbar alles verkaufen – und so wird ganz normales Querstadteinlaufen plötzlich in der Laufpresse zum "next big thing" erklärt: "Citytrail" heißt das also jetzt. Wieder was gelernt.

Foto: Thomas Rottenberg

Wobei es mir fern sei, etwas zu verdammen, nur weil es einen neuen Namen bekommt – und deshalb vielleicht doch den Einen oder die Andere von der Couch weglockt. Außer mir eben: Als ich vor ein paar Monaten – im Zuge einer Buch-Recherche bei Elisabeth Niedereder fragte, ob die 26-fache Lauf-Staatsmeisterin und Betreiberin der Fitness-Plattform "Tristyle" auch Lauftreffs organisiere, war ich wohl ein paar Wochen zu früh dran: "Noch nicht", sagte Niedereder damals – und war unerwartet wortkarg.

Foto: Thomas Rottenberg

Vergangenes Wochenende war es dann aber so weit: Niedereder lud zum "Tristyle urban Workout" in der Wiener Innenstadt. Motto: Die Stadt wird zum Fitnesscenter. Wetter und Community spielten mit: mehr als 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer liefen da nicht nur imageträchtig im Rudel und durch die City, sondern legten auch die eine oder andere Workout-Session in Parks, auf Treppen oder bei Sehenswürdigkeiten hin.

No na wäre das eine Pflicht-Geschichte für mich gewesen. Umso mehr schmerzte mich die lästige, alte Verletzung.

Foto: Thomas Rottenberg

Andererseits hatte und habe ich so doch ein bisserl mehr Zeit für anderes: Ob ich den auf die Sonnenbrille aufsteckbaren Radcomputer-Displaybügel von Garmin je wirklich ausprobiert hätte, wenn ich mich zwischen Laufen und Radfahren wirklich entscheiden hätte können? Eher nicht. So aber war ich allem Anschein nach tatsächlich einer der ersten, die mit diesem Head-up-Display außerhalb eines Messestandes schon gespielt haben: Ein nettes Spielzeug für Freizeitsportler, die sonst schon alles haben. Freilich: Ob man so etwas tatsächlich braucht, steht auf einem ganz anderen Blatt. Aber: Darum geht es ja nicht.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber genug gejammert. Denn man kann auch das Gute im Schlechten suchen. Das Argument mit der Zeit sticht nämlich nicht nur bei Test- und Blog-Geschichten, sondern auch beim ganz individuellen Erlebnishorizont: Wo Sonntagslongjogs wenn schon nicht die Vernunft, so doch der Schmerz nach den ersten Schritten beenden würde, bleiben Raum und Zeit für schöne, gemütliche Radausfahrten. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal über das Wiental zur Sofienalpe und dann weiter nach Tulln geradelt bin. Eine Traumtour. Erst recht bei Traumwetter wie am vergangenen Sonntagvormittag: Der Blick vom Exelberg auf den Dunst in und über der Stadt gehört für mich zum Schönsten, was Wien zu bieten hat …

Foto: Thomas Rottenberg

…und die Fahrt von Tulln den Donauradweg hinunter zurück nach Hause war dann einfach nur ein Traum. Ein schwereloser Flug flussabwärts bei Rückenwind, Sonne und Frühling. Unterwegs sah ich nur glückliche Menschen. Und das steckt an: Irgendwas geht nämlich immer. Und auch das kann wunderschön sein.

Diese Einsicht war mehr als eine Belohnung – sie war ein Versprechen. Von mir an mich: dass alles gut wird. Irgendwann. Und dann werde ich auch wieder laufen. (Thomas Rottenberg, 21.4.2016)

Foto: Thomas Rottenberg