Stefan Ripplinger zitiert Nobelpreisträger Samuel Beckett. Der wusste: In der Kunst wie in der Schöpfung gibt es nichts Neues.

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Wien – Einem populären Sinnspruch zufolge hat jede Zeit die Kunst, die sie verdient. Zugleich gibt es nichts, was schneller veraltet als die jeweils neueste Kunst. Der in Berlin lebende Kulturwissenschafter Stefan Ripplinger hat einen Essay über das schleichende Unbehagen geschrieben. Dieses erfasst unweigerlich alle, die dem immer rascheren Wechsel der Moden in der Kunst nicht mehr folgen wollen – oder ihn nicht begreifen können.

Die neue Leitwährung in Kunstdingen ist die Melancholie. In Vergebliche Kunst, so der Titel von Ripplingers geistvoller neuer Schrift, wird dem Betrieb das denkbar traurigste Zeugnis ausgestellt. Nichts ist heute ungültiger als die schöne Seneca-Maxime: "ars longa, vita brevis". Wobei die Pointe darin besteht, dass das Leben im Wohlstand immer länger währt, die Kunst jedoch auf keinen Fall mehr lang.

Am augenfälligsten scheint der Befund in der bildenden Kunst. In Einzelfällen regen Kunsthistoriker sogar an, öffentliche Kunst alle zehn Jahre daraufhin anzublicken, ob man sie wegräumen kann. Ripplinger knüpft mit seinen Reflexionen an das Museumskonzept des Russen Boris Groys an. Jede Kultur, die auf ihr Gedächtnis hält, überprüft die Bestände dessen, was sie in ihren Speichern vorrätig zu halten wünscht. Sie verbannt das Unverbindliche, das ungültig und lächerlich Gewordene, entfernt es aus den Sammlungen und wirft es – nicht ohne stille Erleichterung – auf den Mistplatz der Geschichte. Solche Prozesse sind unausweichlich. Sie bescheren der Öffentlichkeit mit schöner Regelmäßigkeit Kanondebatten. Kunst, so lernen wir schmerzlich, ist im Wege, sie "verliert sich". Ihre Entwertung geht immer rapider vor sich. Doch Ripplingers Einspruch, der zugleich ein tiefes Bedauern ausdrückt, zielt tiefer.

Die Vorstellung, die hehre Kunst wäre dazu gemacht, unsere Lebzeiten zu überdauern, ist durch nichts gerechtfertigt. "Der Glaube an ein Überdauern der Kunst ist religiöser Provenienz", schreibt Ripplinger. Die Nachwelt, auf die der Künstler seine fromme Hoffnung setzt, ist das Jenseits der Kunst. An diesem Nicht-Ort ist der religiöse Glaube an die Auferstehung stillschweigend aufgehoben.

Aus grauer Vorzeit

Kunst und Religion mögen einander als Geschwister ansehen; doch ihre Verbindung datiert aus grauer Vorzeit. Kunst mag vor unvordenklichen Zeiten einmal in kultische, in kommunikative und koordinierende Funktionen verstrickt gewesen sein. Heute stehen die Genießer vor dem Altarbild wie vor einem Artefakt im Museum. Zugleich kommen ihnen Gemälde und Skulpturen vor wie Devotionalien.

Die Entwertung beider Sphären aber hat ein- und denselben Ursprung. Zeitgenössische Kunst besitzt keine Auftraggeber mehr – es sei denn solche, die an ihr als Kapitalanlage interessiert sind. Ist für die einen die Religion unglaubwürdig geworden, so bleibt die Kunst unbeglaubigt. Ripplinger schreibt mit Blick auf unsere Gegenwart: "Vielleicht entstehen im Dienst der Banken die typischsten Werke. Sie sind typisch aber gerade darin, dass sie nichts Typisches, nämlich Allgemeingültiges, Kollektives besitzen."

Allenthalben wird von den Künstlern individueller Ausdruck gefordert. Doch je individueller ihre Produkte daherkommen, desto beklagenswerter ist die Allgemeingültigkeit ihrer "Wertlosigkeit". Der Kapitalismus spannt alles und jeden, Menschen und Werke, unter das Joch der realen Abstraktion. Kunst wäre demgemäß eine Gabe, die auf keine andere Erwiderung hoffen darf als auf die Gleichgültigkeit derer, die sie jenseits ihres aktuellen Marktwerts in Augenschein nehmen.

Die Kunst wäre Gabe, wenn unser aller Leben Hingabe bedeutete. Doch Gabe und Hingabe müssen lächerlich wirken in einer Epoche, in der nichts umsonst gemacht werden darf, in der sogar die wildesten Feste bloß zur Auffrischung der Arbeitskraft dienen. Egal ist, wie etwas – oder jemand – aussieht, wenn er/es nur als "geldwert" fungieren kann. Freigiebigkeit wird nicht vergolten. Geld ist nichts, was mit Blick auf die Gabe der Kunst zufriedenstellen könnte. Wo bloße Notwendigkeit drängt, dort hat wahre Freiheit nichts zu suchen. So vollzieht die Welt das immer gleiche Schauspiel der Vergeblichkeit. Für die Kunst gilt Samuel Becketts Anfangssatz aus dem Roman Murphy: "The sun shone, having no alternative, on the nothing new." Müsste man jedoch nicht sagen: "Sie scheint auf das Nichts-als-Neue"? (Ronald Pohl, 18.4.2016)