Der Erstkontakt zur Droge mit dem harmlosen Namen Lemon Posset erfolgte im kirchenschiffähnlichen Speisesaal eines nordirischen Schlosses. Das in Enniskillen am Lough Erne gelegene Belle Isle Castle war schon im Halbschlaf, die Gäste überlegten, ob sie noch einen Tee oder Whiskey vor den Kamin im Salon nehmen wollten. Andererseits lockte das von Efeu umrankte Turmzimmer mit den knarrenden Fußböden zum Ausschlafen. Da trug die Köchin noch die bittersüße Creme mit Keks und Himbeeren auf. Schon beim ersten Löffel ist man in den Fängen der Sucht. Dabei ist Lemon Posset gar kein original irisches Rezept.

Internationales Lernen

Die irische Küche. Eingeschworene Fans der grünen Wunderinsel senken bei diesem Thema gerne den Blick und sprechen mit gedämpfter Stimme weiter. Die irische Landschaft, sie sei zweifelsohne eine der schönsten der Welt, nein, die schönste. Die Menschen die nettesten, witzigsten. Und dann die Biere und die Literatur, die Kultur, ja, die Kultur natürlich. Das stimmt alles. Doch Essen wird bei solchen Gesprächen rhetorisch umschifft wie eine wild zerklüftete Atlantikküste, an der man sein kleines Boot nicht zerschellen lassen möchte.

Die irische Landschaft, sie sei zweifelsohne eine der schönsten der Welt, nein, die schönste.
Foto: Ireland‘s Contentpool

Zu Unrecht! Denn die Iren, besonders die Nordiren, mausern sich in der Küche. Still und heimlich haben sie kochen gelernt. Manche holten sich dafür Hilfe von Köchen und Köchinnen aus dem Ausland. Andere haben selbst einige Jahre die Insel verlassen und auswärts ihre Fähigkeiten verfeinert. Zum Beispiel Joe Kelly. Er wuchs in Kalifornien auf, bekochte große Teile der USA und kehrte schließlich in die Heimat seiner Eltern zurück. Seit einigen Jahren betreibt er unweit des erwähnten Schlosses in der Grafschaft Fermanagh eine preisgekrönte Kochschule: die Belle Isle Cookery School, die sich vor Kochwütigen aus dem In- und Ausland kaum erwehren kann.

Ein beschauliches Leben

Kelly steht an seiner langen Theke in der hübschen Schulküche, hinter ihm leuchten grüne Wiesen durch die Fenster. Schafe, Rinder und die Schweine, die in den letzten Jahren eine gewisse Berühmtheit erlangt haben, grasen hier. Es seien genau diese Unberührtheit der Natur, reichlich Regen und fruchtbare Böden, die nun auch Kulinariker entdecken, erklärt Kelly, während er ein traditionelles Soda-Bread mit heimischen Kräutern im Rohr und in der Pfanne zubereitet, als sei das das Einfachste der Welt. "Wir haben hier die besten Voraussetzungen, biologisch und qualitativ hochwertige Lebensmittel wachsen zu lassen", sagt Kelly.

Gutes Brot ist wichtig in Irland. Mittlerweile gibt es eigene Bäckertouren durch Belfast.
Foto: Ireland‘s Contentpool

Neben viel Getreide und Gemüse ist auch der mehrmals prämierte Fermanagh Black Bacon fixer Bestandteil seines Speiseplans. Die charakteristischen schwarz-weißen Schweine, die aussehen, als wären sie in ein Tintenfass getaucht worden, führen ein beschauliches Leben. Im Seengebiet Lough Erne liegen nämlich einige kleine Inseln – und eine davon gehört nur ihnen. Sie laufen hier tatsächlich völlig frei durch duftenden Klee. Rein rechtlich gehört die Insel, Inish Corkish heißt sie, natürlich nicht den Schweinen, sondern Pat O'Doherty.

Friedlich der Kulinarik widmen

Der Fleischhauer bringt seine Schweine per Boot auf die Insel und kümmert sich dann bei täglichen Besuchen liebevoll um sie. Sein Black Bacon ist ein bei irischen Bobos begehrtes, weil vollkommen ohne industrielle Hilfsmittel oder chemische Zusätze produziertes – und unglaublich köstliches – Lebensmittel. Veganer wird das nicht überzeugen, aber für Fleischesser, die Massentierhaltung nicht fördern wollen, sind die Schweine aus Fermanagh eine Alternative.

Manchen Schweinen wird in der Grafschaft Fermanagh der Luxus einer eigenen Insel gegönnt, bevor sie nordirischen Bobos als Black Bacon vorgesetzt werden.
Foto: Ireland‘s Contentpool/Tony Pleavin

Die romantische Landpartie ist vorerst vorbei. Nach etwa zwei Autostunden landet man in Derry (das "London", das manche noch immer dem Namen dieser Stadt voranstellen, lassen überzeugte Iren besser weg). Auch hier, wo die – freilich nicht geladenen – Kanonen auf der alten Stadtmauer immer noch hinunter auf die katholischen Arbeiterviertel zielen, wo ein Mahnmal und viele kunstvoll bemalte Mauern an den Bloody Sunday von 1972 erinnern, an dem 13 für Bürgerrechte demonstrierende Menschen von Soldaten erschossen wurden, auch hier hat man sich nun friedlich der Kulinarik gewidmet.

Famoses aus dem Food-Truck

Das Schöne daran ist: In Derry können auch Feinschmecker mit bescheiden befüllten Geldtaschen richtig satt werden. Wie man das anstellt, zeigt das junge Team von Pyke 'N' Pommes, das seinen Food Truck am Flussufer des River Foyle geparkt und einige Tische rundherum aufgestellt hat. Der Truck wurde binnen Monaten zum Kult: beste Burger, frisches Gemüse und knuspriger Fisch, alles aus biologischem Anbau oder Zucht aus nächster Umgebung, und jedes Gericht eine kleine, feine Offenbarung für den Gaumen. Und dann entdeckt man es auf der mit Kreide täglich neu beschriebenen Stehtafel: Als Nachspeise gibt es Lemon Posset!

Die Pub-Szene blüht
Foto: Ireland‘s Contentpool

Das letzte ist schon rund 14 Stunden her, die Entzugserscheinungen sind bereits unerträglich. Tatsächlich kann die Süßspeise aus dem Truck locker mit jener aus dem Schloss mithalten. Man hält inne und genießt, dann geht es weiter zurück in die Altstadt, wo erst 2015 die Walled City Brewery eröffnet wurde. Eine Mikrobrauerei und ein Familienbetrieb, wo James und Louise Huey feines Craft-Bier brauen: Biere wie Boom, ein bodenständiges Derry Pale Ale, Stitch, ein würziges India Pale Ale, oder das süße, malzige Kicks.

St. George's Market
Foto: Ireland‘s Contentpool

Auch in die nordirische Hauptstadt Belfast kann man sich kulinarisch mittlerweile trauen. Es ist eine Stadt, deren Jugend offensichtlich die blutige Geschichte hinter sich lassen will. Fast gekränkt reagieren manche, wenn man sich die berühmten Murals zwischen den traditionell protestantischen und katholischen Vierteln anschauen will. Auch Vergleiche mit Dublin sind gegenüber den Einwohnern nicht empfehlenswert. Man will, so erklärt eine junge Einheimische, nicht immer mit Morbidität und Gewalt in Verbindung gebracht werden. Sie steht mit ihrem Bier mitten auf der Straße im Cathedral Quarter, wo nachts die Menschenmassen von Pub zu Pub fröhlich zusammenwachsen. Wenig später fragt sie, ob man schon im großartigen Titanic-Museum der Stadt war.

Stern in der Oxford Street

Es stimmt, es ist wirklich ein fantastisches interaktives und – ja – morbides Museum geworden. Aber man ist ja wegen des Schlemmens gekommen. Dafür muss man sich unbedingt ins Ox in die Oxford Street begeben. Es eröffnete 2013 und hat seit heuer seinen ersten Michelin-Stern. Hier experimentieren Stephen Toman aus Belfast und Alain Kerloc'h, der in Paris kochen lernte, mit allem, was um Belfast wächst. Wer hier Rind aus Ballywater oder Brokkoli mit Curry und Haselnüssen probiert hat, will bleiben. Manchmal machen sie auch Lemon Posset – eines zum Niederknien.

Wenn man Belfast am Wochenende besucht, kann man auf dem wunderbaren St. George's Market einkaufen und dann mit irischen Lebensmitteln zu Hause irische Rezepte ausprobieren. Oder besser einfach wiederkommen. (Colette M. Schmidt, 20.4.2016)