Erwin Wurms Geltung in der Kunstgeschichte hängt in erster Linie an seiner Werkgruppe der "One Minute Sculptures". In der Arbeit von 1997 kommt fürs schnelle Foto Büromaterial zum Einsatz.

Foto: Studio Erwin Wurm

Eine typische Rechnung aus der Algebra von Erwin Wurm lautet so: Zwei Hände+vier Gummibänder=Wittgenstein. Gut, man kann darüber streiten, ob es sich hier wirklich um eine bloße Addition handelt, auch wenn die Beschriftung der entsprechenden Zeichnung das zumindest nahelegt. Mit den vier Gummibändern kann man vier Finger jeder Hand schön beschäftigen, und aus dieser feingliedrigen Gymnastik geht eine Geste hervor, die man dann mit Wittgenstein in Beziehung setzen kann.

Wie das genau geht, bleibt Geheimnis des Künstlers, oder man nimmt es als Frage mit in die Studierstube, zurückgekehrt aus der Berlinischen Galerie, wo Erwin Wurm gerade mit einer monografischen Ausstellung zu Gast ist. Sie heißt Bei Mutti, womit natürlich auf eine zentrale Großskulptur angespielt wird, auf die man gleich am Eingang stößt, das gestauchte Elternhaus mit dem Klo, das nicht breiter ist als ein Spalt.

Bei Mutti hat in Berlin allerdings noch einen zweiten Sinn, schließlich ist das eine Schau in der deutschen Hauptstadt, und wer führt hier die Staatsgeschäfte? Eine Politikerin namens Mutti.

"So geil kann Kunst sein", hat die Bild-Zeitung einmal über Erwin Wurm geschrieben, als er auf seiner Erfolgstournee in Wolfsburg Station machte. So eine Schlagzeile kann einem Künstler ganz schön nachhängen, aber eine Institution wie die Berlinische Galerie kommt da genau richtig. Dies ist ein gelassenes Haus, das es sich hier zur Aufgabe gemacht hat, die künstlerische Position von Wurm auf vier Räume zu konzentrieren, von denen jeder einen bestimmten Aspekt verdeutlicht. Eingangs also Bei Mutti, ein halbes Readymade, autobiografisch angereichert, ironisch eingestampft, ein Haus Bruck an der Ur, wie man in Anspielung auf den Kollegen Gregor Schneider sagen könnte. Wurm kommt aus der Gegend von Bruck an der Mur.

Skulptur mit Beipackzettel

Dann der Raum mit den "One Minute Sculptures", an denen viel von Wurms Geltung in der Kunstgeschichte hängt: Skulpturen, die in erster Linie aus einem Beipackzettel bestehen. Allerdings gehört dazu auch immer ein Objekt, mit dem der Bildhauer, der man selbst sein soll, eine Verbindung eingehen kann, zum Beispiel um "Ethik in geometrischer Weise" darzustellen, indem man ein Bein durch ein Loch in einem Sofa zwängt. Die Einminutenskulpturen besetzen einen neuralgischen Punkt der Moderne, sie erstrecken sich gleichsam über den größeren Teil des 20. Jahrhunderts, bis zur Konzeptkunst, von der sie das Moment der Partitur aufgreifen.

Im dritten Raum sieht man dann allerdings, was es mit diesen Partituren bei Wurm näherhin auf sich hat. Hier sind Zeichnungen zu sehen, Gedankenspiele für seine Skulpturen, und man begreift, dass er häufig denkt wie ein Cartoonist. Das ist keineswegs geringschätzig gemeint, denn die hintersinnigen Zeichnungen können ebenso hohe (oder leichte) Kunst sein wie die Aufforderung, beim Atmen an Spinozas Konzept des freien Willens zu denken, woraus sich eine Skulptur für eine Minute oder länger ergibt. Um die Pointe auszubuchstabieren: Spinoza war Determinist, Notwendigkeit und freier Wille gehörten für ihn zusammen. In einer Zeichnung oder einer Partitur geht das leichter als in einer Verrenkung, von daher der Vorsprung der Konzeptkunst in dieser Angelegenheit.

Selbstbespiegelung

Im vierten Raum sehen wir den Erwin Wurm der Gegenwart. Arbeiten, mit denen er unweigerlich auf die Konjunktur seiner Arbeiten reagieren muss, die ihm kürzlich auch noch die Berufung in den österreichischen Pavillon in Venedig 2017 eingebracht hat (gemeinsam mit Brigitte Kowanz). Man könnte sagen, er reagiert zweifach: frei und deterministisch zugleich, mit zerdepschten Kühlschränken oder eingetretenen Möbeln amüsiert er sich über den "impact" des künstlerischen Akts, mit einem übel zerschossenen, fast sakral präsentierten Telefon ruft er aber auch die klassische Ausstellungsform auf, die am Ende, ganz hinten, ein Meisterwerk erwarten lässt. Wurm ist modern genug, das Gegenteil auch zuzulassen. (Bert Rebhandl, 16.4.2016)