Vor genau zwei Jahren wurden hunderte Mädchen von der Terrorgruppe Boko Haram entführt – von den meisten fehlt noch jede Spur.

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Auf der Straße von Yola nach Chibok fehlt plötzlich der Asphaltbelag, Schlaglöcher tun sich auf. Zum Schleichen zwingen auch zahlreiche Checkpoints. Manchmal sind es alte Ölfässer, dann knorrige Baumstämme oder Sandsäcke. Schon im vergangenen Jahr hat Nigerias Präsident Muhammadu Buhari angeordnet, die Kontrollposten zügig abzubauen. In den krisengebeutelten Provinzen Borno und im Norden Adamawas sind sie jedoch geblieben.

Offiziell bleibt die Regierung seit Ende 2015 zwar dabei, den Kampf gegen die Terrorgruppe Boko Haram "technisch gewonnen" zu haben. Tatsächlich ist die Miliz auf dem Rückzug, doch die Normalität ist längst nicht zurück. Im Gegenteil: Viele Bewohner berichten von Terroristen, die sich zwar verstecken, aber weiter für brutale Überfälle verantwortlich sind. Im äußersten Nordosten Nigerias regiert weiterhin die Angst.

Kurz vor Chibok wird die Straße endgültig zur Holperpiste. Wer über den offiziellen Weg in das Dorf kommt, muss mehrere Militärposten passieren. Ohnehin ist eine Reise dorthin nur mit Militäreskorte und offiziellen Schreiben möglich, Journalisten werden nicht gern gesehen. Für mehr als 100 Eltern ist es trotzdem wichtig gewesen, in dieser Woche nach Chibok zu reisen: Zum ersten Mal treffen sie sich in der Schule, in der in der Nacht zum 15. April 2014 das Unvorstellbare geschah: 276 Mädchen wurden aus ihren Schlafsälen entführt, nur 57 konnten bisher fliehen.

Präsident Jónathan in der Kritik

Unvorstellbar sind auch die Pannen, die in der Tatnacht und den Wochen danach passierten. Knapp vier Stunden vor dem Überfall ging eine Warnung ein. Es heißt auch: Den Mädchen wurde verboten, ihre Schlafsäle zu verlassen. Sicherheitskräfte sollen zu dieser Zeit längst selbst geflohen sein. Erst 19 Tage später äußerte sich der damalige Präsident Goodluck Jonathan zu der Entführung. Der katastrophale Umgang mit Chibok dürfte ihn 2015 die Wiederwahl gekostet haben.

Selina Ezikeil muss all das anhören. Sie trägt ein grünes Kleid, dessen Muster fröhlich und lebendig wirkt. Doch Ezikeils Augen sind ausdruckslos, und die Stimme ist leise und monoton. "Aisha ist unter den Mädchen", sagt sie auf Haussa. Bei der Entführung war ihre Tochter 17 Jahre alt. Heute hat Selina nur einen Wunsch: Sie möchte die Tochter noch einmal in die Arme schließen.

CNN strahlte Video aus

Von den allermeisten Schülerinnen fehlt bisher jedes Lebenszeichen. Gestern, am frühen Donnerstagmorgen, sendete der Nachrichtensender CNN jedoch ein Video, in dem 15 Chibok-Mädchen zu sehen sind. Als es drei Müttern vorgespielt wird, brechen sie in Tränen aus. Auch alle übrigen Kinder konnten mittlerweile identifiziert werden. Das sagt in der Hauptstadt Abuja Aisha Yesufu, die zur Bewegung #BringBackOurGirls gehört. Diese wurde kurz nach der Entführung gegründet und sorgte mit der gleichnamigen Twitterkampagne für weltweite Aufmerksamkeit. Bis heute trifft sich ein kleiner Kreis täglich im Zentrum, um die Mädchen nicht zu vergessen. "Das Video gibt uns Hoffnung", sagt Aisha Yesufu.

Doch es wirft auch Fragen auf. Als Aufnahmedatum wird der 25. Dezember 2015 genannt, was aber niemand überprüfen kann. Aisha Yesufu hält es für glaubwürdig. "Die Gesichter der Mädchen haben sich verändert." Das Trauma, das die Entführten durchlebt haben, sei sichtbar. Die Aufzeichnung kann aber auch anders gelesen werden. Mitunter heißt es, sie gleiche zu sehr jener vom Mai 2014. Es war damals das letzte Lebenszeichen der Entführten.

Protestzug

Für die Aktivisten in Abuja bedeutet das Video jedoch: den Druck auf die Regierung erhöhen. Seit einer Woche finden Events für die Schülerinnen statt. Höhepunkt war am Donnerstag, ein Protestzug zum Regierungssitz von Präsident Muhammadu Buhari.

Zurück in Chibok: Dort brüllt niemand die Parolen der Aktivisten – gerade viele Mütter schweigen lieber. Einige weinen leise. Selbst wenn das Video ein Beweis dafür sein sollte, dass die Mädchen noch am Leben sind, heißt es nicht, dass die Eltern sie wiedersehen werden. Selina Ezikeil will trotzdem die Hoffnung nicht ganz aufgeben. Vielleicht gibt es noch ein Wunder. Ihr Lächeln hat sie aber längst verloren. (Katrin Gänsler aus Chibok, 14.4.2016)