Eines gleich vorweg: Der Vienna City Marathon ist eine wunderschöne Veranstaltung. Einer der schönsten Läufe überhaupt – und das sage ich nicht nur, weil ich ein bekennender Wien-Fan bin. Auch andere Läufer und Laufbegleiter, weit erfahrener in puncto Laufen als ich und viel weiter gereist als ich, werden nicht müde, das Ambiente, die Atmosphäre und das Gänsehautfeeling zu besingen, das sich bei der großen Stadtrunde schon auf den ersten Metern einstellt. Der Start über die Reichsbrücke, über die Donau und auf den Stephansdom zu ist eine große, emotionale Vorlage für alles, was dann kommt: das grüne Wien, das klassische Wien, das historische Wien – alles da. Und sich das in einer Zigtausendschaft zu erlaufen ist wunderschön. Herzzerreißend schön. Ein großes Theater – voller Emotionen.

Foto: Thomas Rottenberg

Das gilt sowohl auf als auch neben der Strecke: Nein, die Wiener sind kein großes Straßenpartyvolk. Und nein, sie gehen nicht wirklich aus sich heraus. Und ja, bei anderen Läufen in anderswo ist am Streckenrand mehr los. Und ja, phasenweise ist es beim VCM sogar an der Spitze relativ einsam – wenn man sich die Publikumsmresponse ansieht. Aber: Das ist egal. Denn niemand kommt ins Ziel und jammert über die Stimmung entlang der Strecke. Erstens, weil man nach einem Marathon andere Dinge im Kopf hat. Zweitens, weil immer das Schlussbild zählt – und da das "Roar" der vollen Tribünen der Ringstraße (oder früher des Heldenplatzes) die letzten Meter prägten. Und man drittens nicht denen, die da waren, vorjammern soll, dass da mehr ginge: Mit der Methode "schlagt den Boten" erreicht man nichts – und verjagt nur die, die sich redlich Mühe geben.

Foto: Thomas Rottenberg

Dieses "schlagt den Boten" ist auch ein bisserl das, was jedes Jahr passiert, sobald ich über den VCM schreibe: Ich kriege Prügel. Und das nicht zu knapp. Weil die, die den Lauf gerade mit einem fetten Grinsen im Gesicht beendet haben, nicht wollen, dass neben ihre Leistung und ihre Freude etwas anderes gestellt wird: "Right or wrong – my marathon" gilt da. Nachvollziehbar. Aber einen Schritt zu kurz gedacht: Auch wenn es alle Jahre wieder die gleichen Punkte sind, die als Kritik an der Veranstaltung und ihrem Drumherum aufpoppen, ändert das nichts an dem, was der Lauf selbst kann. Für die Läuferinnen und Läufer. Für die Stadt. Für mich.

Foto: Thomas Rottenberg

Deshalb: Ich führe keinen Kreuzzug, sondern zeige auf das, was ich sehe. Und – das nur nebenbei – auch auf Dinge, die mir Kollegen und Leute zutragen, die sich selbst nicht aufzustehen trauen. Da ist das schöne Wort "Medienpartnerschaft" ein hervorragendes Mittel, um Journalisten die Gosch'n halten zu lassen.

Also sammle ich die Watschen ein. Das halte ich schon aus. Auch im Sinne der Sache: Es wäre ein Leichtes, die meisten der Kritikpunkte auszuräumen.

Dafür müsste man aber seitens des Veranstalters vor allem eines: zuhören statt drüberfahren. Reden statt niederbrüllen. Kritik als Ermutigung verstehen, noch besser zu werden, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen – und dann darüber zu diskutieren. Und zwar auf Augenhöhe. Nicht mit mir, sondern mit Leuten, die wirklich etwas vom Laufen verstehen. Etwa mit dem Trainer und Anti-Doping-Kämpfer Wilhelm Lilge von team2012.at. Der schrieb auf Facebook unlängst einen sehr schönen Satz über den VCM: Der sei, so Lilge sinngemäß, eine tolle Veranstaltung, bei der es für die Macher noch zu lernen gelte, dass kommerzieller Erfolg und Kundenzufriedenheit keine Antagonisten sein müssen, sondern gerade Stammkunden das Gefühl schätzen, wertgeschätzt und ernst genommen zu werden. Und das sei langfristig … und so weiter.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber kommen wir zum Lauf selbst. Meinem VCM. Okay, Linz war für meine Hüfte wohl heftiger als erwartet: Dass man mit Verletzungen eigentlich nicht laufen sollte, ist nichts Neues. Dass es – hin und wieder und langsam – trotzdem geht, ist auch bekannt. Ebenso wie die Tatsache, dass man immer erst nachher weiß, ob das Laufen Kraft gegeben oder Kraft gekostet hat. Also ob es ein Fehler war, über den Schmerz drüberzurennen. Manchmal geht es sich nämlich aus.

Diesmal aber leider nicht. Als ich drei Tage vor dem Vienna City Marathon zu einem kurzen Auslockerungslauf antrat, war nach nicht einmal einem Kilometer klar: Das wird am Sonntag nichts. Und danach wohl auch noch einige Zeit lang. Damit musste ich rechnen. Darum: SSKM.

Foto: Thomas Rottenberg

Meine Startunterlagen holte ich trotzdem. Aus Neugierde. Das "Startersackerl" des Vienna City Marathon ist nämlich legendär. Nicht, dass irgendjemand darauf angewiesen wäre, einen Energydrink, zwei Müsliriegel, ein Deo und ein Duschgel zu bekommen. Aber: Starter-Packages zeigen auch Wertigkeit und Hochachtung, die Teilnehmern einer Laufveranstaltung entgegengebracht werden. Es ist weltweit Usus, ein paar Goodies hineinzugeben. Beim Kleinevent in Hintertupfing genauso wie bei den ganz Großen. Es ist jedes Mal wieder "lustig", Wien-Newbies dabei zuzusehen, wie sie beim Abholen der Startunterlagen zum Sackerlstand zurückgehen und sagen, dass sie versehentlich ein leeres Sackerl bekommen hätten. Die Gesichter von egal von woher angereisten Lauftouristen sprechen eine Sprache, die dem Wien-Tourismus nicht wurscht sein sollte.

Foto: Thomas Rottenberg

In Wien wird Journalisten, die nach dem Grund für die Leere fragen, dann – angeblich – erklärt, dass es logistisch unmöglich sei, so viele Sackerln mit Zeug zu befüllen. (Ich habe, nachdem ich jahrelang auf Rückrufe gewartet habe, aufgegeben, mich um Statements zu bemühen. Die pampigen Antworten, die andere – angeblich – bekommen, sind aber auch bezeichnend.) Aber ich nehme zur Kenntnis, dass es logistisch sehr wohl möglich ist, Prospekte und Gutscheinhefte ins Sackerl zu legen. Und verweise auf das Statement des Trainers und Managers des doppelten Worldrun-Siegers Lemawork Ketema, Harald Fritz, im Screenshot.

Foto: Thomas Rottenberg

Ein zweiter "Klassiker" im Vorfeld des VCM ist die Frage nach den Startblöcken: Einer der Hauptgründe, meine Startnummer doch zu holen, war die jährliche Frage, ob ich nicht vorgereiht werden könne. Weltweit ist es üblich, dass man bei der Anmeldung seine beste – belegte – aktuelle Wettkampfzeit angibt. Nach der wird man einem Startblock zugeteilt. So ist gewährleistet, dass nicht Trauben von langsamen Läufern den Schnelleren im Weg stehen. Bei großen Läufen wird streng kontrolliert. Die Startblöcke sind von hohen Zäunen umgeben. Wer es dennoch schafft, im falschen Block loszurennen, riskiert eine Disqualifikation. (Weiter hinten starten ist aber erlaubt. Immer und überall.)

In Wien habe ich bisher immer gesagt: "Ich will in Block 1" – und ohne mit der Wimper zu zucken klebte man mir ein anderes Blockpickerl auf die Startnummer. Vor Ort kontrolliert wurde das ohnehin nie.

Heuer aber war es anders: "Da musst du zum Helpdesk", sagte man mir. "Gut so", dachte ich, "haben sie also endlich erkannt, dass es anders nicht geht!"

Foto: Thomas Rottenberg

Im Fernsehen sah es mehr als eindrucksvoll aus. Wie jedes Jahr: Hammerbilder. Zehntausende auf der Reichsbrücke. Aufnahmen, die das Herz jedes Sponsors, Lokalpolitikers und Tourismuswerbers höherschlagen lassen.

Aber meines blutete: No na wäre ich gern mitgelaufen. Trotz aller Kritik: Es ist der Marathon in der Stadt, in der ich lebe. Und die ich liebe. "Ich schaffe es einfach nicht, da nicht zu laufen", hatte eine Bekannte unlängst auf Facebook geseufzt. Ich verstehe sie.

Foto: ORF Screenshot/ Thomas Rottenberg

Aber Zuschauen ist auch eine Form des Dabeiseins: Die Marathonstrecke führt an der Haustür vorbei. Die vorderste Gruppe versäumte ich: Die Espressomaschine brauchte zu lang zum Aufwärmen – und im Fernsehen sah ich die Spitze ohnehin.

Trotzdem: Hautnah das Vorbeifliegen des kleinen Trupps rund um die erste Frau mitzuerleben war mehr als beeindruckend. 42 Kilometer in Zweistundenwasauchimmer zu laufen (2:24:31 brauchte die Siegerin) macht für mich wenig Unterschied zur Siegerzeit (2:09:48): Rechnen Sie sich einfach das Durchschnittstempo dieser Menschen aus. Das halte ich nicht einmal über 50 Meter hin.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber trotz aller Bewunderung für die Elite: Mich interessiert das "Fußvolk". Und das wälzte sich schon hier bei Kilometer zwölf mit fast einer Stunde Rückstand durchs Wiental. Egal ob Staffel-, Halb- oder Vollmarathonis: Jeder und jede verdient Respekt, Hochachtung – und die bestmöglichen Bedingungen.

Foto: Thomas Rottenberg

Doch die Bedingungen sind – bis zum Abbiegen der Halbmarathonläufer – für Hobbyläuferinnen und -läufer eigentlich inakzeptabel. Sage nicht ich, sondern auch gute und sehr gute Läufer. Etwa jener Pacemaker, der in sozialen Medien fassungslos (und stocksauer) erzählte, wie eng es nach dem Praterstern plötzlich wird, wenn die Laufstrecke sich auf die halbe Breite verjüngt – und er unentwegt auf langsame Läufer in Kompaniestärke auflief. Um genau das zu verhindern, gibt es eigentlich Startblöcke. Einzelne Läufer werden immer zurückfallen, aber: "Startblock kommt in Wien von 'blockieren'", fasste der Mann zusammen. Und schloss sein Posting mit: "Hier laufe ich nie wieder."

Profitrainer Harald Fritz, der einen bewusst langsamen Lauf im dafür korrekten Block anging, stieß ins gleiche Horn: "Ich kann es nicht glauben: Ich war im Startblock 3 mit einer Zielzeit von 3:50 eingereiht. Bei Kilometer vier (Hauptallee) überholten wir den Pulk mit dem offiziellen (!) Pacemaker für 4:30. Bei km 8 den für 2:00 HM … Vor uns waren ständig langsamere Läufer, (sodass) es kaum weiterging. WIE KANN SO EIN DILETTANTISMUS SEIN?"

Foto: Thomas Rottenberg

Sowohl Fritz als auch der ungenannt bleiben wollende Pacer beklagten, dass das Laufen bis zum Abbiegen der Halbmarathonläufer am unteren Ende der Mariahilfer Straße mehr als mühsam war. Und man erst ab der Zweierlinie Platz hatte zu laufen. Der "Preis" dieser heuer früher vollzogenen Trennung war, dass die Marathonläufer hinter dem Rathaus laufen mussten. Attraktiv ist anders – aber es geht wohl nicht anders.

Denn die VCM-Macher können es sich nicht leisten, den Halb- vom Vollmarathon zeitlich oder räumlich zu trennen (oder gar die Staffel aus dem Marathonfeld zu nehmen): Auf der Ergebnisseite des Veranstalters wird wohlweislich die kumulierte Gesamtzahl von 33.591 Finishern aller Bewerbe (also Marathon, Halbmarathon und Staffel) bejubelt – aber die Zahl der Marathon-Finisher tunlichst nicht einmal halblaut ausposaunt. Die liegt nämlich seit Jahren konstant um die 6.800 Läuferinnen und Läufer. Und bei 6.000 Läufern, die sich über Stunden hinweg über 42 Kilometer zu einem dünnen, langen Strudelteig auseinanderziehen, würden weder Stadtpolitik noch ORF so brav durch Reifen springen und lustige Hüte aufsetzen, sobald der Stadtmarathon vor der Tür steht. Mit den "echten" Marathonzahlen gäbe es weder Strecke noch Liveübertragung – und Sponsoren zahlen nicht für maue Bilder ohne TV-Coverage.

Foto: Thomas Rottenberg

So aber stellt niemand Fragen, die man als Veranstalter nicht ohnehin ignorieren kann: Die Berichterstattung ist von vornherein auf "Mega" fokussiert. Details interessieren niemanden, solange sie nicht im Fernsehen gezeigt werden. Etwa die Schnauze des Pkws am rechten Bildrand: Ich hatte ihn zuerst gar nicht beachtet – und die Kamera schon wieder im Rucksack. Da fuhr der Wagen los. Es war kein Amokfahrer: Der Lenker hatte in der Berggasse gewartet – und zwar so lange, bis der Dienst versehende Parksherrif (der Uniformierte war jedenfalls kein Polizist) beschloss, dass es jetzt an der Zeit sei, den Verkehr zu regeln: Er hielt die Läufer auf – und winkte den Wagen durch. Nein, es war kein Einsatzfahrzeug. Und nochmals nein: Es war nicht am hintersten Ende des Feldes, sondern mitten in der große Masse der Läufer, die vier Stunden und ein bisserl was brauchen würden.

Foto: Thomas Rottenberg

Derartige Szenen habe ich nicht gesucht. Wenn man sich ein bisserl abseits der Elite und der vordersten Läufer herumtreibt oder umhört, "stolpert" man ständig über Derartiges. Ich war auch gar nicht unterwegs, um nach Kritikpunkten zu suchen, sondern begleitete Freunde auf dem Rad.

Allerdings tat ich das nicht so wie die Dame im Bild. Die war mir schon auf der Donaulände und der Praterstraße aufgefallen: Sie begleitete einen Läufer – allerdings nicht neben der Strecke, sondern mitten im Pulk. Sie war nicht die Einzige. Und tempobedingt fuhr sie nicht immer ganz geradeaus. Aber: Ich sah nicht einen Streckenposten, den das gekümmert hätte.

Foto: Thomas Rottenberg

Das Gute am Sich-um-nix-Scheren: Auch diese beiden wurden nicht behelligt. Ich betone: gut so. Denn Peter Pan und Tinkerbell waren das mit Abstand am süßesten verkleidete Paar dieses Stadtmarathons. Trotzdem gelten Spielregeln eben für alle. Und während sie am Rücken groß die Webadresse ihres Sponsors aufgeheftet hatten, hatten sie die Startnummern verkleinert. Nur: Dafür, auf Startnummern aufzuscheinen, zahlen Sponsoren eine Menge Geld. Ergo ist das Verändern, also auch Kleinerfalten, eigentlich streng verboten. Man riskiert im schlimmsten Fall sogar eine Disqualifikation. Nebenbei: Anderswo sah ich, wie gefaltete Nummern beim Start wieder "geöffnet" werden mussten. Wo? Beim Betreten des Startblocks …

Foto: Thomas Rottenberg

Zuletzt, auf dem Ring, schloss sich der Kreis: Natürlich ist so etwas Pech. Es kann, darf aber eigentlich nicht passieren. Denn schon beim Start hatte sich einer dieser Luftbögen im böigen Wind nicht hochbringen lassen. Doch vor der Elite wird schneller und effizienter gearbeitet: Das Hindernis war weg, bevor ein Läufer in seiner Nähe war. Und so plötzlich knicken diese Werbedinger auch nicht ein. Darum: ein unglücklicher, blöder Zufall – aber doch einer, der in mein Gesamtbild der Veranstaltung Bild passte.

Foto: Thomas Rottenberg

In Summe ist all mein Gesudere aber vollkommen egal. Weil alles vergessen ist, wenn man an die Ziellinie kommt. Egal ob es 42,195 Kilometer sind oder "nur" die Halbdistanz oder man Teil einer Staffel war. Da zählt nur, dass man es geschafft hat. Und – zu Recht – stolz und glücklich ist.

Und auch wenn danach die seit Jahren immer gleichen und im Grunde leicht aus der Welt zu schaffenden Kritikpunkte mantraartig runtergeleiert werden, ist deshalb eines fix: Im nächsten Jahr geht das Spiel von vorne los. Mit den gleichen Beteiligten und den gleichen Themen auf der gleichen Strecke – und es wird sich dennoch fast so anfühlen, als sei es das erste Mal. Ein Wiener Theater eben – mit den dazugehörenden Emotionen. (Thomas Rottenberg, 14.4.2016)

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