"Bewusst verletzend": Kanzlerin Angela Merkel (li.) distanzierte sich vom "Schmähgedicht" des deutschen TV-Satirikers Jan Böhmermann gegen den türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan (re.).

Foto: AFP / Büro des türkischen Ministerpräsidenten

Ankara/Athen – Martin Erdmann hatte keine Ahnung, warum er schon wieder ins Ministerium am Ismet-Inönü-Boulevard einbestellt wurde. Zum dritten Mal in vier Wochen, so berichtete der deutsche Botschafter in Ankara am Montag dem türkischen Oppositionsblatt "Cumhuriyet". Kein schlechter Schnitt nach 34 eher ruhigen und stetigen Jahren im diplomatischen Dienst. "Ich mache die Erfahrung, dass die Welt, und natürlich auch die diplomatische Welt, sehr farbig sind", so umschrieb er mit der gebotenen beruflichen Zurückhaltung Einberufung Nummer drei.

Das war die wegen des Erdoğan-Lieds im deutschen NDR – nach Erdmanns Einberufung wegen eines Besuchs im Gerichtsaal am ersten Verhandlungstag gegen die "Cumhuriyet"-Journalisten und vor dem nächsten Skandal um das Erdoğan-Schmähgedicht. Dazwischen gab es noch eine Einbestellung wegen eines deutschen Schulbuchs, in dem "internationale Völkermorde" behandelt wurden – darunter auch jener an den Armeniern, der nach offizieller türkischer Auffassung nicht stattgefunden hat.

"Persönliches" Bedauern

Dass der deutsche Botschafter einer der letzten Oppositionszeitungen in der Türkei ein Interview gegeben hat, wird die Sache nicht einfacher machen. Den Prozess gegen deren Chefredakteur und Ankara-Bürochef hatte Staatspräsident Tayyip Erdoğan persönlich angestrengt. In der Causa Böhmermann sprach Erdmann einerseits von "kulturellen Unterschieden" und hielt andererseits fest: Er persönlich bedauere es, dass eine solche Sendung ausgestrahlt worden sei.

Auf dem Beştepe-Hügel in Ankara, wo Erdoğans Palastanlage steht, gab der Sprecher des Präsidenten am Montag mit sichtlicher Zufriedenheit bekannt, dass die Türkei in Berlin offiziell die Strafverfolgung von Jan Böhmermann verlangt habe. "Angriffe, die solche Beleidigungen enthalten und mit unziemlichen Ausdrücken geäußert werden, um auf den Präsidenten eines Landes und auf das Volk zu zielen, haben nichts mit Meinungsfreiheit und Medienfreiheit zu tun", so erklärte Ibrahim Kalin.

Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus warf Böhmermann vor, mit dem Gedicht ein "schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit" begangen zu haben. Der Text habe "alle Grenzen der Schamlosigkeit übertroffen". Die Regierung in Ankara könne das nicht akzeptieren. Kurtulmus betonte, die Türkei wolle "absolut keinen politischen Druck" auf Deutschland ausüben. Zudem hat Erdoğan, wie am Montagabend bekannt wurde, bei der Staatsanwaltschaft Mainz auch als Privatperson einen Strafantrag wegen Beleidigung eingebracht. Dieser werde in dem bereits anhängigen Verfahren geprüft werden, hieß es.

Kein Verständnis für Satire

Der TV-Satiriker Böhmermann hatte Erdoğan in einem Gedicht geschmäht, das wegen der scheinbar unmotivierten Vielzahl der Beleidigungen selbst auch als spielerische Form verstanden wurde. In der Türkei des autoritär regierenden Erdoğan und seiner fromm-konservativen Anhängerschaft finden solche Ausritte in die künstlerische Freiheit nicht das geringste Verständnis.

Erdoğan selbst hatte schon in den Jahren als Regierungschef zunehmend konsequent Kolumnisten und Oppositionspolitiker wegen Beleidigung geklagt. Seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten vor bald zwei Jahren aber gehen die Verleumdungsprozesse in die Hunderte.

Schüler vor Gericht

Selbst minderjährige Schüler sind vor Anklagen nicht gefeit: Zwei Cousins, zwölf und 13 Jahre alt, standen im Dezember vergangenen Jahres vor Gericht, weil sie Plakate des Präsidenten abgerissen hatten. "Yarina Bakiş" (Blick auf morgen), eine Zeitung, die von Journalisten des unter Zwangsverwaltung gestellten Massenblatts "Zaman" nun versuchsweise herausgegeben wird, listete die Interventionen des Staates gegen Beleidiger und Verbreiter missliebiger Nachrichten allein im vergangenen Jahr auf: 573 Anzeigen wegen "frei geäußerter Meinung", 566 blockierte Webseiten, 26 Razzien gegen Zeitungen.

Beleidigungen werden in der hemdsärmligen türkischen Politik dabei schnell ausgeteilt. Der Chef der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP, Kemal Kiliçdaroglu, löst seit Tagen Empörung wegen einer umstrittenen Äußerung gegen die Familienministerin aus. Kiliçdaroglu warf ihr vor, sich schützend vor Kinderschänder zu stellen, und variierte dabei eine strittige Formulierung eines Regierungspolitikers. Erdoğan nannte das eine "politische Narrheit". (Markus Bernath, 11.4.2016)