"Wie nichtig alles ist, was wir tun": Präzisionserzähler J.-P. Blondel.


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cover: deuticke

Der französische Schriftsteller Jean-Philippe Blondel schreibt kurze, kompakte Romane, die man problemlos an zwei oder drei Abenden zu Ende lesen kann (zügige Leser schaffen sie an einem). 6 Uhr 41 (2014 auf Deutsch publiziert) und das gerade erschienene This is not a love song drehen sich um nicht übermäßig bedeutsame Gefühlsdramen eines überwiegend "kleinen" französischen Provinzbürgertums. Triviale Liebesgeschichten, Ehealltag, kleine und größere Fluchten, innerfamiliäre Zwistigkeiten im Ambiente der Petite Bourgeoisie: Den Anspruch, eine breite gesellschaftliche Realität oder gar Totalität "widerzuspiegeln", wie er in der Vergangenheit an "große" Romane gestellt wurde, erheben diese Bücher nicht.

Der US-Schriftsteller Gore Vidal hat einmal das Bonmot geprägt, seine Kollegen seien so sehr damit beschäftigt, große ("great") Schriftsteller zu sein, dass sie darauf vergäßen, gute Schriftsteller zu sein. Jean-Pierre Blondel ist ein guter Schriftsteller, ein sehr guter so-gar. Man möchte ihn einen Präzisionserzähler nennen, der seine Geschichten ohne Pathos und Geschwätzigkeit abschnurren lässt und seine Welt klein hält, weil er will, dass deren soziale und psychologische Details stimmen (außerdem hat er als Englischprofessor an einem Lycée in Troyes noch anderes zu arbeiten). Wenn man auf Klassifizierungen Wert legt, sind 6 Uhr 41 und This is not a love song Unterhaltungsliteratur, aber eine Unterhaltungsliteratur, die dem Geist des Realismus verpflichtet ist und dem Leser wohlfeile Wunscherfüllungsfantasien und absehbare Happy Endings versagt. Blondels Interesse gilt den Mühen und Plagen, die dem unheroischen Teil der Menschheit konstant zu schaffen machen. Sie handeln von teils selbstverschuldeten, teils schicksalhaften Beziehungsschwierigkeiten, von Charakterschwächen, von Geistern der Vergangenheit, die unheilvoll in die Gegenwart hineinragen, von sozialen Beschränkungen, Sozialneid und den Zumutungen des Altwerdens.

In 6 Uhr 41 trifft ein in die Jahre gekommenes ehemaliges Liebespaar frühmorgens im Abteil eines Vorortezugs zufällig aufeinander. Die Beziehung ist vor drei Jahrzehnten unter mehr schäbigen als dramatischen Umständen gescheitert. Die unverhoffte Begegnung stürzt beide in einen Zustand der Perplexität, sodass man nach außen hin zunächst einmal so tut, als kenne man einander nicht (mehr), dafür geht es in zwei getrennt ablaufenden inneren Monologen rund. Der Suspense, ob zwischen den beiden etwas Weiterführendes herauskommen wird, ist zwar ständig präsent, aber nicht die eigentliche Pointe des Buches, ebenso wenig wie die Enthüllung der Gründe, warum ihre Beziehung bachab gegangen ist. Im Zentrum stehen die Lebensbilanzen, zu denen die Situation Cécile und Philippe herausfordert: Was ist da in diesen vergangenen 30 Jahren passiert? Sie fallen kaum glorios aus: "Für Überraschungen ist mit 47 weniger Raum. Man rennt in seinem Hamsterrad, das einen überfordert – Ehe, Scheidung, Kinder, Job, gesellschaftliches Leben, Verpflichtungen. Nur schlaflose Nächte holen einen manchmal dort heraus, indem sie uns vor Augen führen, wie nichtig alles ist, was wir tun."

This is not a love song (2007, vor 6 Uhr 14 entstanden, später ins Deutsche übersetzt) schildert die Geschichte eines in Großbritannien zu Wohlstand gekommenen Auslandsfranzosen in seinen Dreißigern, der eine Woche auf Urlaub nach Frankreich zurückkehrt. Die Gattin, aus bestem britischem Stall, ist mit den Kindern auf der Insel zurückgeblieben, sodass der im Gastronomiebusiness arrivierte Gemahl vor allem auf seinen ungeheuren Dünkel als Begleiter angewiesen ist. Den spielt er auch weidlich aus, sei es als Ressentiment gegenüber seinem Geburtsland, sei es in der angeekelten Wahrnehmung der Freunde, Bekannten und Familienangehörigen, die in der französischen Provinz versumpft sind: "Meine Mutter in ihrem Teakholz-Liegestuhl, in ihrem Gärtchen hinter dem Haus. In ihrem Sommerkleid mit dem Blümchenmuster in Gelb, Grün und Orange, den Strohhut auf dem Gesicht. Sie schwitzt schnell unter den Achseln, und das riecht man." Als Vincent von den Geistern der Vergangenheit eingeholt wird und auf eine sehr zweideutige Weise in die Ehe seines Bruders hineininterveniert, kommen außer dem Dünkel noch andere mächtige Emotionen ins Spiel.

Blondels Romane sind ernüchternd, aber nicht deprimierend, weil auch in den begrenzten Aktionsräumen seiner Figuren immer wieder Platz für das Überraschende, vor allem für sich unvermutet einstellende Gefühlskonstellationen ist. Man muss sie nur wahrnehmen und benennen können, auch wenn man dies oft lieber nicht täte. Die despektierliche Einschätzung eines Charakterzugs seiner Mutter ("Sie ist eine wahre Meisterin in der Kunst, sich etwas vorzumachen") scheint Blondel mit Vincent zu teilen. Er jedenfalls macht seinen Figuren und seinen Lesern nichts vor, für eine realistische Literatur die beste Voraussetzung. (Christoph Winder, Album, 11.4.2016)