Der wirtschaftliche Druck auf die Gesundheitsbranche wächst, Zwischenmenschliches bleibt auf der Strecke.

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Patienten werden manchmal benutzt, um gute Zahlen zu erzielen, sagt der deutsche Medizinethiker Giovanni Maio.

Martin Nußbaum

STANDARD: Sie sind vehementer Kritiker der Ökonomisierung der Medizin. Wo genau liegen die Risiken und Nebenwirkungen?

Maio: Medizin ist kein Geschäftsmodell. Ärzte sind keine Manager, die eine Dienstleistung verkaufen, und Patienten keine Kunden, die Anbote einholen und vergleichen. Medizin ist eine soziale Errungenschaft. Die Ökonomie ist nur ihre Dienerin: Sie ermöglicht ihr, Medizin zu sein, darf aber nicht über sie bestimmen. Unser Problem ist es heute, dass Ökonomie der Medizin die Richtung vorgibt.

STANDARD: Sind Effizienz und betriebswirtschaftliches Denken mitunter nicht auch sehr heilsam?

Maio: Missmanagement kann sich keiner leisten, es braucht vernünftige Strukturen, keine Verschwendung. Doch führt Effizienzsteigerung dazu, dass Heilberufe nicht mehr selbst frei entscheiden können, was sie mit den Patienten machen, wird sie gefährlich. Zu viel Effizienz zerstört Kreativität.

STANDARD: Wohin führt eine Industrialisierung der Medizin mit Ärzten als Fließbandarbeitern?

Maio: Es verformt sie. Der Wert der Industrie ist ihr Produkt. Und den Weg dorthin abzukürzen, ist sinnvoll. Umgelegt auf die Medizin bedeutet Kontakt zu Patienten unnötigen Ressourcenverbrauch – wer sich für sie Zeit nimmt, gerät daher automatisch unter Verdacht, ineffizient zu sein. Ärzte müssen also schneller zuhören. Gute Medizin wird damit verunmöglicht. Therapie ist kein Befolgen von Gebrauchsanweisungen. Doch mittlerweile wagt es keiner mehr, die industrielle Brille abzulegen.

STANDARD: Profitdenken war doch immer schon Teil der Medizin und ein Arzt einst vielleicht sogar mehr Handwerker als heute?

Maio: Medizin war immer mit finanziellen Fragen verknüpft. Die ökonomische Seite war jedoch im Hintergrund, durfte nie direkt Einfluss auf Therapieentscheidungen nehmen. Heute werden Patienten manchmal dazu benutzt, um gute Zahlen zu erzielen. Ihr Wohl ist sekundär.

STANDARD: Die Chancen, geheilt zu werden, sind heute besser denn je. Klagen Sie auf hohem Niveau?

Maio: Natürlich geht es uns im Vergleich zu nicht funktionierenden Systemen gut. Wir können auf Gesundheitsleistungen rasch zugreifen. Aber es wird an weichen Faktoren gespart, darin, wie Ärzte und Pfleger mit Menschen umgehen. Das dürfen wir nicht übersehen, das ist ein Rückschritt. Wer krank ist, braucht nicht nur eine Reparatur durch Ingenieure.

STANDARD: Wer sind die größten Verlierer der Kommerzialisierung der Gesundheitsbranche?

Maio: Schwer kranke, chronisch kranke, alte Menschen mit hohem Pflegeaufwand, für die viel investiert werden muss, um zu helfen. Menschen, bei denen nicht nur eine schnelle Operation Heilung erwirken kann. Es geht um die schwächsten Glieder einer Gesellschaft. Aber auch die Heilberufe selbst sind Verlierer. Sie werden durch Dokumentationswut und Bürokratisierungsspiralen gegängelt, durch ständige Kontrolle demotiviert und sinnentleert. Unser System spart am falschen Ende.

STANDARD: Der Kostendruck wird weiter massiv steigen. Kämpfen Sie gegen Windmühlen?

Maio: Wir selbst entscheiden darüber, wie wir unsere sozialen Systeme aufbauen. Das ist kein Sachzwang, der vom Himmel kommt. Verantwortliche Politiker müssen begreifen, dass Ärzte und Pflegende in durchrationalisierten Systemen keine gute Medizin betreiben können. Was wir heute erleben, ist ein Abbau der Begleitung, der Betreuung und des Gesprächs. Unsere Medizin stellt technische Hochburgen dar. Im zwischenmenschlichen Bereich hat sie völlig abgebaut. Das darf nicht sein.

STANDARD: Braucht es auch ein Umdenken unter den Patienten? Viele sehen sich letztlich ja auch gern als Manager ihrer Gesundheit?

Maio: Debatten über Selbstverantwortung sind sehr gefährlich. Wir dürfen Menschen, die sich nicht selbst helfen können, nicht bestrafen, indem wir ihnen daran auch noch die Schuld geben. Ein soziales System nimmt sich ihrer Not ohne Kalkül an. Das darf nicht geopfert werden. Viele schwer kranken Menschen sind auch finanziell in prekären Lagen. Da kommen wir mit dem Postulat der Eigenverantwortung nicht weiter. Wir dürfen nicht über sie richten.

STANDARD: Wie halten Sie es mit der zunehmenden Privatisierung von Kranken- und Pflegeanstalten?

Maio: Privatisierung birgt Gefahren in sich, wenn wir mit dem Ziel der höheren Renditen den eigentlichen Sinn sozialer Einrichtungen aus dem Blick verlieren. In Deutschland sind bereits 30 Prozent der Krankenhäuser in privater Hand. Das ist eine Fehlentwicklung: Es wird nur in das investiert, was sich rechnet und womit sich viel Geld verdienen lässt. (Verena Kainrath, 7.4.2016)