Bashar al-Assad stammt aus der alawitischen Gemeinschaft – und deren Verteidigung vor den sunnitischen Islamisten hat er zur Basis seines Verbleibs im Amt gemacht. Das lässt eine Gruppe alawitischer Prominenter nicht gelten und hat eine Schrift über die neue alawitische Identität verfasst.

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Damaskus/Wien – Unmut unter den syrischen Alawiten – der Religionsgemeinschaft und Volksgruppe, der die Familie Assad entstammt – hat sich bisher vor allem vor dem Hintergrund des großen Blutzolls artikuliert, den sie für die Verteidigung des Regimes bezahlen: etwa nach dem (teilweise auf Video festgehaltenen) Massaker an syrischen Soldaten, die meisten davon Alawiten, durch den "Islamischen Staat" in der Militärbasis Tabqa in der Nähe von Raqqa Ende August 2014. Nach allgemeiner Auffassung haben die Alawiten jedoch gar keine andere Wahl, als auf der Seite des Regimes zu verharren: Sie überleben mit Assad oder gehen mit ihm unter.

Mit einem intellektuellen Befreiungsschlag versucht nun eine Gruppe von hochrangigen Alawiten – so bezeichnen sie sich selbst – diese Wahrnehmung zu durchbrechen. Das achtseitige Dokument "Die Alawiten in der Gesellschaft" wurde am Wochenende bekannt und ist eine "Erklärung einer Identitätsreform". Der Text ist anspruchsvoll und wird nur langsam einsickern. Aber er ist nicht weniger als ein Statement, das Präsident Bashar al-Assad die Rechtfertigung für seine Art der konfessionellen Herrschaft – der Anspruch der Verteidigung der religiösen Minderheiten – entzieht.

Dazu muss klargestellt werden: Die Assads, Vater Hafiz (1970–2000) und Sohn Bashar, haben in Syrien keine Herrschaft des Alawitentums installiert, oder wenn, dann höchstens im tribalen Sinn, keineswegs im religiösen. Die eigene Religion wurde ja abgelegt – der Präsident Syriens ist laut Verfassung ein Sunnit –, der alawitische Klerus systematisch geschwächt. Die religiöse Herkunft des Regimes sollte möglichst vergessen gemacht werden.

Ganz normale Schiiten

Die Tendenz ging in die Richtung, die Alawiten als Zwölferschiiten – die größte Gruppe unter den Schiiten – zu kategorisieren. Dazu gibt es eine entsprechende Fatwa des libanesischen schiitischen Klerikers Moussa al-Sadr aus dem Jahr 1974. Auch für viele westliche Medien ist das Alawitentum eine "schiitische Sekte" – wobei es richtig ist, dass es historische und auch glaubensinhaltliche Bezüge gibt. Aber das Alawitentum weist viele eigene, der Schia völlig fremde Glaubenselemente auf. In ihrer Erklärung weisen nun die Alawiten die Behauptung, dass sie Schiiten seien, entschieden zurück: Jede Fatwa, die das behaupte, sei nichtig. Sie seien weder Schiiten noch Sunniten, sondern eine dritte Gruppe, Angehörige eines mystischen Islam.

Tatsächlich ist das Alawitentum eine der letzten überlebenden gnostischen frühislamischen Sekten. Diese Gnosis – das Verfügen über "Geheimwissen" über die innere Dimension des Islam (dessen äußere etwa der Koran wäre) – war auch der Grund für Verfolgung, die Angst davor und die Isolation, in die die Alawiten im Laufe der Geschichte geraten sind. Die Autoren der Erklärung betonen jedoch den rein historischen Charakter dieser Entwicklung: Die Verfolgung, die Abschottung sei nicht Teil des alawitischen Glaubens. Die Alawiten seien keine Gemeinschaft, die die Angst vor der Auslöschung vereinen muss, von dieser Art Gemeinschaftsgefühl müssten sie sich befreien. Und so kann der Schutz der Alawiten auch keine Rechtfertigung zum Herrschen sein. Es ist ein Versuch, sich für ein neues Syrien zu positionieren: mit einer Identität, zu der der Antagonismus zu den Sunniten nicht gehört, sondern die Versöhnung.

"Halbwahrheiten"

Im alawitischen Narrativ orten die Schreiber den Geist der "Übertreibung": Das kollektive Gedächtnis müsse gesichtet werden, um "Halbwahrheiten" loszuwerden, die die Alawiten in die Isolation treiben. Erwähnt wird dabei auch die Fatwa des sunnitischen Theologen Ibn Taymiya (gestorben 1328), die die Alawiten als Apostaten, die die Todesstrafe verdienen, einstuft.

Diese Fatwa repräsentiere nur Ibn Taymiya, aber nicht die Sunniten: Sie sei im Namen menschlicher Werte zu verurteilen, nicht in jenem der Alawiten. Die Autoren: Die Sunniten in Syrien hätten im Laufe der Geschichte jede Gelegenheit gehabt, diese Fatwa umzusetzen, taten es aber nicht.

Assad hat besonders nach Ausbruch des Aufstands die konfessionelle Gemengelage dazu benützt, die Alawiten, aber auch andere religiöse Gruppen, die sich vor den Islamisten fürchten – Christen, Drusen, Ismailiten –, bei der Stange zu halten. Das Alawiten-Dokument entzieht ihm die Basis dafür und stellt fest: Die zukunft liegt im gemeinsamendemokratischen zivilen Heimatland.

Leicht wird es nicht: Die sunnitischen Islamisten werden ihren Ibn Taymiya weiter auf ihre Art interpretieren, und die Schiiten werden die Alawiten weiter zu schiitisieren versuchen, weil es ihnen politisch in den Kram passt: Auch da sind noch eine Menge Hausaufgaben zu machen. (Gudrun Harrer, 7.4.2016)