Ein neuer Heiland oder doch nur ein Bub mit besonderen Fähigkeiten? Der kleine Alton Meyer (Jaeden Lieberher) sieht sich in "Midnight Special" gleich von vielen Seiten bedroht.

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Wien – Die größte Irritation ist dieser Schuss Unentschiedenheit. Wenn sich die Einzelteile wie Puzzlestücke zueinander verhalten, sodass man nicht gleich weiß, welches Bild sich daraus ergibt. In Midnight Special erfahren wir über TV-Nachrichten, dass ein Bub entführt wurde. Dann sehen wir ihn in einem Motelzimmer, zwei bewaffnete, nervös wirkende Männer sind bei ihm, doch ihr Umgang mit dem Kind scheint vertraut – und dieses viel zu vertrauensselig. Kidnapping, denkt man, ist das keines. Verträumt sitzt der Bub unter dem Leintuch und liest sein Comic.

Warner Bros. Pictures

Rund 40 Minuten vergehen in Jeff Nichols' Midnight Special, bis sich die Konstellation der Figuren erhellt; bis man weiß, wie die beiden Männer Roy (Michael Shannon) und Lucas (Joel Edgerton) zueinander stehen. Gemeinsam bringen sie den Jungen namens Alton Meyer (Jaeden Lieberher) fort. Roy ist Altons Vater, aber was an dem Ort geschehen wird, der am Ende ihres Roadtrips liegt, weiß auch er nicht. Denn Alton ist kein Kind wie andere. Satelliten- und Radioübertragungen kann er besser empfangen als jede Antenne. Nötigenfalls holt er auch einen Trabanten herunter. Dann färbt sich der Nachthimmel mit glühenden Trümmern, die wie Geschoße auf die Erde knallen.

Die Vorzüge des B-Movie

Mit Midnight Special liefert Nichols seine erste größere Studioproduktion ab, in der die eigenwillige Sensibilität seiner vorherigen Filme Take Shelter oder Mud erfreulicherweise erhalten bleibt. Anstatt dramatische Situationen aufzufalten, genügt hier meist schon die Andeutung. Wie ein besseres B-Movie schätzt der Film die Abweichung und Spekulation, bevorzugt szenische Verdichtung über wohlfeile Dramaturgie. Alton, das Wunderkind, ist bei Nichols genau das Gegenteil eines Spezialeffekts. Er soll beschützt statt ausgenutzt werden. Soll nicht ausbrechen, sondern Kräfte schonen. Nur wenn es sein muss, bricht es aus ihm hervor, dann aber gewaltvoll wie Schmerzen.

Aus den Augen des Jungen ergießt sich in diesen Momenten ein gleißender Lichtstrahl, den Nichols zum Teil nur mit Blendenflecken inszeniert. Der stilistische Minimalismus führt zu den Ängsten und Widersprüchen der Figuren zurück, zu skeptischen, wortkargen Menschen, die selber im Dunkeln tappen. Die 1980er-Jahre-Filme von Steven Spieberg und John Carpenter hätten ihn inspiriert, sagt Nichols – besonders an die schwermütige Scifi-Ballade Starman (1984) fühlt man sich erinnert, in der Jeff Bridges mit verwunderter Miene auf die argwöhnischen Menschen schaute.

Wirklichkeitsnah im Bible Belt

Das "Alien" treibt den falschen Glauben der Menschen hervor. Auch in Midnight Special geht es darum zu zeigen, was das "Wunderkind" bei anderen auslöst, welche Begehrlichkeiten es weckt und wie unfähig darauf die staatlichen Institutionen reagieren. Selbst solche gängigen Feindbilder unterläuft Nichols mit Adam Drivers nerdigem NSA-Beamten noch. Die Settings des Films bleiben hingegen auffällig wirklichkeitsnah. Es ist das Hinterland des weniger wohlhabenden Amerika, das hier durchfahren wird – Bible-Belt-Land, dem man auch jene Sekte abnimmt, die in den Zahlenreihen des Buben den Code zum verstellten Paradies erkennen wollte. Roy und auch Altons Mutter Sarah (Kirsten Dunst) sind darin groß geworden.

Dass es Nichols Drehbuch (und schließlich auch seiner Umsetzung) nicht gelingt, alle diese Elemente aufzufangen und zu einem glücklichen Ende zu führen, ist vielleicht das, was zu einem großen Film fehlt. Immerhin, der Funken Wehmut im Staunen geht nie verloren. (Dominik Kamalzadeh, 7.4.2016)