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Hans-Dietrich Genscher im November. 2015.

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Genscher und der damalige tschechoslowakische Außenminister Jiří Dienstbier durchschneiden im Dezember 1989 ein Stück des Eisernen Vorhangs.

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Helmut Kohl, Genscher und Michail Gorbatschow im November 1990.

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Hans-Dietrich Genscher, Henry Kissinger und Helmut Schmidt im Juli 1975

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Mit Hans-Dietrich Genscher wird noch heute der berühmteste unvollendete Satz der deutschen Geschichte verbunden. "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ...": Diese Worte sprach der damalige deutsche Außenminister am 30. September 1989 auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag. Weiter kam Genscher nicht, der Jubel von 4.000 DDR-Bürgern, die im Garten der Botschaft Zuflucht gefunden hatten, war grenzenlos und verschluckte die letzten Worte "... heute möglich geworden ist".

Hans-Dietrich Genscher als deutscher Außenminister in der Prager Botschaft am 30. September 1989.
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Seit Tagen hatten die Flüchtlinge im Garten der Botschaft ausgeharrt, in die DDR wollten sie auf keinen Fall zurück, die Bundesrepublik war ihr Ziel. Zu Genscher hatten sie in diesen unsicheren Wendetagen Vertrauen – nicht zuletzt, weil er selbst aus der DDR weggegangen war. Am Donnerstag starb der ehemalige Außenminister 89-jährig an einem Herz-Kreislauf-Versagen, teilte sein Büro am Freitag mit.

Jurist und Abgeordneter

Genscher stammte aus Halle in Sachsen-Anhalt. Nach dem Krieg schlug er sich als Hilfsarbeiter auf dem Bau durch und studierte später in Halle und Leipzig Jus. 1952 verließ er die DDR via Westberlin und ging nach Bremen, wo er als Anwalt arbeitete. Im selben Jahr trat er in die FDP ein, deren Vorsitzender er von 1974 bis 1985 wurde. 1965 zog er als Abgeordneter in den Bundestag ein, es war der Beginn seiner politischen Karriere.

Insgesamt drei Kanzlern (den Sozialdemokraten Willy Brandt und Helmut Schmidt sowie CDU-Mann Helmut Kohl) diente Genscher als Minister. Zunächst war er ab 1969 Innenminister, in diese Zeit fiel "der schrecklichste Tag meiner langjährigen Amtszeit", wie er später bekannte. 1972, bei den Olympischen Spielen in München, nahm ein palästinensisches Terrorkommando elf israelische Sportler als Geiseln. Genscher verhandelte Tag und Nacht, bot an, sich selbst gegen die Geiseln auszutauschen – vergeblich. Wenig später misslang die Geiselbefreiung, 17 Menschen starben.

Genscherismus

1974 übernahm Genscher das Auswärtige Amt. Dabei hatte er zu diesem Zeitpunkt keinerlei außenpolitische Erfahrung, sprach weder Englisch noch Französisch. Dennoch blieb er 18 Jahre lang Außenminister – länger als jeder seiner Vorgänger und Nachfolger. Seine Name prägte sogar eine eigene Form der Politik: Genscherismus. Gemeint ist damit, Ausgleich und gute Beziehungen in alle Richtungen zu suchen. Der britische Historiker Timothy Garton Ash definierte Genscherismus so: "Man möchte freundschaftliche Beziehungen mit dem Himmel, vertiefte Partnerschaft mit der Erde, aber auch fruchtbare Zusammenarbeit mit der Hölle."

Interview mit Hans-Dietrich Genscher im Oktober 2015.
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Um das alles zu schaffen, war Genscher während seiner Zeit als Außenminister praktisch ständig auf Reisen. In Bonn kursierten unzählige Witze, wonach sich Genscher gelegentlich im Flugzeug selber treffe. Genscher aber war überzeugt, dass Deutschland keine Konfrontationen suchen dürfe, dass vielmehr Kooperation mit allen Seiten mehr bringt. Deutlich früher als sein Chef Helmut Kohl erkannte er das Potenzial der Reformidee des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow. Kohl verunglimpfte Gorbatschows Glasnost-Ideen zunächst als "Public Relations" und verglich sie mit der Propaganda von Goebbels – sehr zum Missfallen Moskaus. Genscher rief hingegen 1987 gezielt dazu auf, Gorbatschow "ernst" und "beim Wort" zu nehmen.

Als "Kanzler der Einheit" gilt noch heute Kohl. Dass die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 gelang, ist aber zu einem großen Teil auch Genschers Verdienst, der auf (west)deutscher Seite die 2+4-Verhandlungen (BRD, DDR, USA, Großbritannien, Frankreich, Sowjetunion) führte. Gegen Ende seiner Amtszeit erntete Genscher jedoch viel Kritik, diese Phase gilt als Makel in seiner Erfolgsbiografie: 1991 erkannte er frühzeitig die ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien an. Viele meinen noch heute, Genscher habe damit die Lage auf dem Balkan verschärft. Er selbst sagte: "Es war umgekehrt. Die Anerkennung von Slowenien und Kroatien brachte Slobodan Milošević dazu, den Krieg gegen diese beiden Staaten zu beenden. Ist das nichts?" (Birgit Baumann, 1.4.2016)