Bei manchen wirkt es, bei anderen nicht: Deshalb wird Erfolg in der Medizin in Statistik gemessen. Die Interpretation für den Einzelfall setzt Kenntnis voraus. Sonst verschwimmen Zahlen und Hoffnung.

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Die Abendsonne leuchtet zwischen den Wolkenkratzern einer US-Großstadt hindurch, während ein Mann mit seinem erwachsenen Sohn unterwegs zu einem Baseballspiel ist. Der Mann ist todkrank, so viel wird aus dem Zusammenhang klar. Plötzlich taucht auf einem der Gebäude ein Schriftzug auf. "Eine Chance, länger zu leben" steht da in gigantischen Lettern. Der ältere Mann blickt hinauf und lächelt, während ihn sein Sohn ansieht.

"Für Menschen mit fortgeschrittenem Lungenkrebs ist es nicht alltäglich, dass etwas derart Großes passiert", kommentiert eine Stimme die Szene, während dazu dramatische Musik spielt. Mehr Worte sind in dem Werbespot von Bristol-Myers Squibb (BMS) nicht notwendig. Blicke reichen, um die Geschichte fertigzuerzählen: Ins Bild kommt eine ältere Frau, die ihr Enkelkind umarmt. Danach sieht man einen Mann, der mit seiner Frau und dem gemeinsamen Hund spazieren geht. Vater, Großmutter, Ehemann.

Der Zuschauer versteht: Diese drei Personen leiden an unheilbarem Lungenkrebs. Doch nun gibt es Hoffnung für sie: Opdivo. "Das Medikament bringt die Chance, länger zu leben, es hat gegenüber der herkömmlichen Chemotherapie das Überleben signifikant erhöht", heißt es in dem Werbespot.

Wunsch und Wirklichkeit

Die seit Herbst des vergangenen Jahres in den USA gezeigte Werbung für Opdivo hat in Fachkreisen eine Kontroverse entfacht. Opdivo verlängert das Leben: Diese Behauptung ist wissenschaftlich korrekt. Doch es geht dabei nicht um Jahre oder Monate, sondern tatsächlich um 90 Tage.

Getestet wurde das Arzneimittel an Lungenkrebspatienten in einem sehr fortgeschrittenen Stadium. Sie hatten eine Chemotherapie erhalten, trotzdem breitete sich ihre Erkrankung weiter aus. 135 Menschen bekamen daraufhin das neue Opdivo, 137 eine weitere Chemotherapie. Die Hälfte der Patienten im Chemo-Studienarm verstarb nach nur sechs Monaten, unter Opdivo lebten die Patienten 9,2 Monate.

Diese wichtige Information wird in der Werbung allerdings nur kleingedruckt eingeblendet. Im Gedächtnis hängen bleiben stattdessen die hoffnungsvollen Blicke, die sich Vater und Sohn vor dem Baseballspiel zuwerfen. 90 Tage länger leben: Darf man dafür in einem Werbespot den Eindruck vermitteln, da findet ein medizinischer Durchbruch statt?

Geht es nach Vinay Prasad, muss diese Frage dringend in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Der Onkologe forscht an der Health and Science University in Portland, im US-Bundesstaat Oregon. Im vergangenen Jahr wollte der auf Lymphome spezialisierte Arzt herausfinden, wie die öffentliche Beschreibung der Wirkung von Medikamenten mit der Realität zusammenpasst. Prasad und ein Kollege haben im Zuge einer Studie gezielt nach Ausdrücken wie "revolutionär", "bahnbrechend" oder "Wundermittel" in Zusammenhang mit Arzneien Ausschau gehalten.

Tendenz zu Jubelmeldungen

Obwohl die Ärzte nur über einen Zeitraum von vier Tagen Ende Juni Beiträge auswerteten, fanden sie 94 Berichte, in denen die erwähnten Superlative verwendet wurden. "Das Ausmaß hat uns überrascht", erzählt Prasad. Den Forschern fiel auf, dass, wenn von einer Revolution in der Medizin die Rede war, es fast nie um Volkskrankheiten wie Bluthochdruck, Rheuma oder Diabetes ging. 80 Prozent der Jubelmeldungen handelten von neuartigen Antitumormedikamenten.

Dazu zählt die Immuntherapie, bei der es darum geht, die körpereigenen Abwehrzellen zu aktivieren, um diese gegen Krebs zu nutzen. Opdivo ist ein Immunpräparat. Ebenfalls oft überschwänglich erwähnt wurden zielgerichtete Therapien. Dabei sucht die medizinische Forschung nach molekularen Veränderungen im Tumor und setzt an unterschiedlichen Rezeptoren an, um das Wachstum der Krebszellen auszuschalten.

Im Gegensatz zur Chemotherapie sollen die neuartigen Medikamente nicht alle Zellen schädigen, sondern nur Krebszellen attackieren. Prasad sagt, dass so gut wie keine der in den vergangenen Jahren neu entwickelten Therapien die Zuschreibung "revolutionär" verdient.

Was Erfolg sein kann

Einzige Ausnahme sei Imatinib. Das Mittel dient zur Behandlung der chronisch-myeloischen Leukämie (CML) und hat die Überlebensprognosen für die Erkrankung wesentlich verbessert. Acht Jahre nach Krankheitsausbruch sind heute fast 90 Prozent der CML-Patienten am Leben. Das ist neunmal mehr als vor der Entwicklung Imatinibs. "Aber bei allen anderen Medikamenten gibt es eine aufgeblasene Rhetorik, mit der die wirklichen Vorteile für Patienten nicht akkurat beschrieben werden."

Die überzogenen Erwartungen lassen sich in Zahlen gießen. US-Mediziner rund um den Onkologen Tito Fojo kamen in einer Studie zum Ergebnis, dass alle zwischen 2002 und 2014 in den USA zugelassenen Krebstherapien für solide Tumore (nicht darunter fällt etwa die Leukämie) das Gesamtüberleben zwischen Diagnose und Todeszeitpunkt im Vergleich zu Standardtherapien um durchschnittlich 2,1 Monate verlängert haben.

Woher kommt also die "aufgeblasene" Rhetorik, und was bedeutet sie für Patienten und ihre Angehörigen? Die Suche nach Antworten führt nach Zürich. Dort arbeitet der Analyst Lorenzo Biasio: Er bewertet im Auftrag der Credit Suisse die Aktien von Pharmafirmen. Aktienpreise drücken eine Zukunftserwartung aus. Gehen die Preise nach oben, glauben Investoren künftig an höhere Gewinne. Die Kurse von Pharmariesen wie Roche und BMS kannten in den vergangenen Jahren nur eine Richtung: aufwärts.

Erwartung schüren

Das hat laut Biasio mit den neuen Krebstherapien zu tun. Sie gelten als Wachstumsmarkt. "Branchengrößen können es sich gar nicht leisten, da in der Forschung nicht aktiv zu sein." Unternehmen informieren natürlich ihre Investoren regelmäßig über Fortschritte ihrer Studien zu Medikamenten in der Entwicklung.

Dieser Informationsfluss schlug sich auch in den Studienergebnissen Prasads nieder: Etwa ein Zehntel der Artikel, die eine angebliche Revolution in der Medizin ankündigten, beschäftigten sich mit Krebsmedikamenten, die noch im Labor an Mäusen getestet wurden.

Damit wird eine Erwartungshaltung geschaffen: Dass die Aktienkurse von Pharmafirmen unentwegt steigen, liege auch daran, dass Investoren damit rechnen, dass regelmäßig neue Medikamente auf den Markt kommen. "Durchbrüche sind eingepreist", sagt Biasio.

Dass manche vielversprechenden Mittel Enttäuschungen waren, konnte die Stimmung nicht trüben. Das liegt für den Schweizer daran, dass die Pharmafirmen mit den Produkten gut verdienen. 2,5 bis drei Milliarden Euro machen die Entwicklungskosten im Regelfall für neuartige Therapien aus, sagt Biasio. Einmal im Angebot, werden die neuen Mittel teuer verkauft. Auf 150.000 US-Dollar taxiert der Analyst die Behandlungskosten mit Opdivo für einen Erwachsenen. Die Konzerne nehmen die bestehenden Preise für aktuelle Standardtherapien wie etwa eine Chemo und verrechnen einen hohen Aufschlag.

Deshalb steigen die Preise mit jeder Neuzulassung eines Präparates an und sinken nicht, außer die Gesundheitsbehörden verhandeln irgendwann einen Rabatt aus. Zudem versuchen Pharmafirmen ihre Einnahmen zu maximieren, indem sie die Zulassung ein und desselben Medikaments für mehrere Erkrankungen erwirken, etwa für Haut- und Lungenkrebs.

Macht der Worte

An dieser Stelle könnte die Geschichte zu Ende sein: Pharmafirmen preisen ihre teuer entwickelten Präparate an, um Geld zu verdienen. Das wäre die simple Conclusio. Doch bei differenzierter Betrachtung zeigt sich, das Pharma-Bashing funktioniert nicht. In Europa läuft das Zulassungsverfahren für Opdivo bei den meisten Formen von Lungenkrebs. Sollte grünes Licht kommen, wäre eine Werbung wie in den USA nicht erlaubt. Denn in Europa ist es strenger reglementiert als in den USA, was Vertreter der pharmazeutischen Industrie öffentlich sagen dürfen.

In Österreich etwa ist Werbung für verschreibungspflichtige Medikamente nur in Fachzeitschriften für Ärzte gestattet. Unternehmen müssen penibel darauf achten, in der Öffentlichkeit keine überzogenen Erwartungen zu wecken. Auf der Website von BMS Österreich findet sich in der Tat nur eine einzige Presseaussendung, und die bezieht sich auf die Ernennung einer neuen Generalmanagerin des Unternehmens.

Die Untersuchung der Mediziner aus Portland hat tatsächlich gezeigt, dass die Rhetorik der Superlative nicht unbedingt von Big Pharma kommt, sondern fast allgegenwärtig ist. Ärzte, Patienten, Journalisten und Analysten sprechen von Revolution und Durchbruch. Bei Journalisten ist der Fall klar. Die Suche nach knackigen Schlagzeilen und der Durst nach Zugriffszahlen im Internet verleiten zu einem aufgeblasenen Wording.

Die langfristige Perspektive

Aber warum sprechen Ärzte von Wunderwaffen? Die Frage führt zu Christoph Höller, der am Wiener AKH als Oberarzt in der Abteilung für Allgemeine Dermatologie arbeitet. Als er 1998 angefangen hat, Melanompatienten im fortgeschrittenen Stadium zu behandeln, sei das im Grunde eine "Sterbeverwaltung" gewesen, sagt Höller. "Man hat in die Patienten jede Art von Chemotherapie hineingejagt, mit so gut wie keinem Erfolg."

Dann kam 2010 das neue Immunpräparat Ipilimumab auf den Markt. Langzeitbeobachtungen kommen heute zu dem Ergebnis, dass die Fünfjahresüberlebensraten bei fortgeschrittenen Melanompatienten mit Ipilimumab bei rund 20 Prozent liegen. Das ist mehr als doppelt so hoch wie die Zahl davor. Auch wenn vier von fünf Patienten weiter sterben und die meisten Menschen das nicht als Revolution sehen würden: "Aus Sicht der Ärzte war das eine revolutionäre Entwicklung", sagt Höller.

Es gibt also eine innere Perspektive im medizinischen Alltag, die sich stark von der äußeren unterscheiden kann. Wenn Ärzte es gewohnt waren, ständig machtlos gegen eine Erkrankung zu sein, fühlen sich Erfolge besser an, als sie objektiv sein mögen. Höller plädiert dafür, die Sprache mit Bedacht darauf auszuwählen, wer zuhört: Vor Kollegen sei es angebracht, die Erfolge der neuen Therapien mit Superlativen zu beschreiben. "In der Öffentlichkeit muss man damit vorsichtiger sein", sagt Höller.

Hoffnung brauchen

Die neuen Therapien bieten zudem etwas für alle Betroffenen: Hoffnung. Einer von vier: Das ist eine Chance. Die Bedeutung dieses Aspektes sollte man gerade in der modernen Spitzenmedizin nicht unterschätzen. Wenn der Arzt seinem Patienten sagen muss, dass es für ihn keine sinnvolle Behandlungsmöglichkeit mehr gibt, ist das ein einschneidender Moment für den Patienten und seine Angehörigen. Nicht wenige realisieren erst da, dass die Krankheit tödlich enden wird.

Viele Ärzte tun sich schwer, in so einer Situation die richtigen Worte zu finden, weil ihnen die Zeit oder das notwendige Einfühlungsvermögen fehlt. Wer schon einmal schwerkranke Patienten begleitet hat, weiß, dass Ärzte sich aus Scheu vor dem Thema in eine distanzierte Fachsprache flüchten, manche meiden sogar den Blickkontakt mit den Patienten. Eine weitere Behandlungsoption anzubieten kann für Mediziner und Betroffene daher ein willkommener Weg aus dieser Ausweglosigkeit sein – auch wenn die Wirkung der Therapie in vielen Fällen nicht auf Dauer ist.

Doch auch die derzeit gehypten Immunpräparate sind oft mit Nebenwirkungen verbunden, weil sich die Abwehrreaktion des Körpers gegen gesunde Organe richten kann. Diese Reaktionen in den Griff zu bekommen ist oft schwierig und langwierig. Gerade deshalb sei es wichtig, die Wirkung neuer Medikamente nicht überzogen darzustellen, sagt der US-Onkologe Prasad, denn sonst passiere es, dass Menschen Qualen für eine weitere, womöglich nutzlose Behandlung auf sich nehmen. Das Problem gebe es im klinischen Alltag bereits.

Risiko und Nutzen

Wobei die Bewertung von Risiken und Nutzen nicht einfach ist. Denn bei einer Gruppe von Patienten bringen die neuartigen Medikamente zwar keine Heilung, wirken aber besser als klassische Therapien. Das heißt, es ist nicht genug, auf Durchschnittswerte zu blicken. Beispiel Opdivo: Lungenkrebspatienten starben mit dem Medikament im Regelfall 7,3 bis 13,3 Monate nach Behandlungsbeginn. Unter Chemotherapie betrug die Spanne 5,1 bis 7,1 Monate. Manche Menschen profitierten also mehr als sechs Monate. Doch die Medizin tut sich heute noch schwer zu sagen, welche Patienten von einem Medikament profitieren werden und welche nicht.

Was heißt das für Patienten und ihre Angehörigen? Was bringen die neuen Therapien? Verallgemeinernd lässt sich das nicht beurteilen. Es kommt auf unzählige Faktoren an: die Erkrankung, den Allgemeinzustand, Alter, die Alternativen, das soziale Umfeld. Betroffene bräuchten also vor allem eines: Spezialisten, die auf die individuelle, persönliche Situation eingehen, sich Zeit nehmen und mit dem Erkrankten gemeinsam einen passenden Weg suchen. (András Szigetvari, CURE, 24.4.2016)