Jean-Jacques Rousseau, Wegbereiter der Französischen Revolution, befand: "Wer Politik und Moral auseinanderhalten will, versteht von beidem nichts." Moral ist Voraussetzung für die Politik in einem Rechtsstaat, denn politische Macht ist mit einem moralischen Wertesystem verbunden: Demokratie, Pressefreiheit und Gewaltenteilung gehören dazu. Darauf ist Europa zu Recht stolz. EU-Staaten weisen Länder wie Russland oder China gerne mit erhobenem Zeigefinger auf die Einhaltung dieser Werte hin. Aber wenn es um die Türkei geht, dann pocht Europa neuerdings nicht mehr darauf.

Keine Protest gegen Pressefreiheit-Einschränkung

Seit Freitag stehen der Chefredakteur der Zeitung "Cumhuriyet", Can Dündar, und Bürochef Erdem Gül vor Gericht, ihnen wird von Staatschef Tayyip Erdogan persönlich Spionage nach einem Bericht über Waffenlieferungen der Türkei an Extremisten in Syrien vorgeworfen. Die beiden Journalisten waren bereits drei Monate in Haft. Auch Korrespondenten deutscher Medien mussten ausreisen, weil ihnen Akkreditierungen verweigert worden waren. Öffentlichen Protest vonseiten der Politik gab es nicht.

Die EU-Staaten brauchen die Türkei zur Lösung des Flüchtlingsproblems und sind deshalb "bereit, Ideale über Bord zu werfen", wie Dündar in einem Presse-Interview kritisierte. Die EU-Staaten müssen sich diesen Vorwurf gefallen lassen. Denn sie setzen darauf, dass die Türkei ihnen die Flüchtlinge abhält und abnimmt. Wer auf den griechischen Inseln landet, wird retour in die Türkei geschickt.

Proteste der UNO und Urteile ignoriert

Dass damit rechtsstaatliche Prinzipien infrage gestellt werden, darauf haben UN-Organisationen aufmerksam gemacht. UNHCR und die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen haben ihre Arbeit in Aufnahmelagern auf griechischen Inseln eingestellt mit der Begründung, dort werden Menschen inhaftiert. Bereits 2011 hat der Europäische Gerichtshof geurteilt, dass Asylwerber nicht mehr nach Griechenland gebracht werden dürfen, weil es dort zu Menschenrechtsverletzungen kommt.

Von der österreichischen Regierung, die sich in Sachen Flüchtlingsabwehr neuerdings geeint zeigt, wurden diese rechtlichen Einschränkungen ignoriert. Ohne Griechenland einzubeziehen, wurde beim Westbalkan-Gipfel in Wien ein Abschotten der Balkanroute vereinbart. Hauptsache, die Flüchtlinge bleiben ausgesperrt, möglichst weit weg vom eigenen Land.

Idomeni blieb ohne politische Reaktionen

Während Bilder der am Budapester Bahnhof festgehaltenen Flüchtlinge im September die Regierungen in Wien und Berlin zum Eingreifen brachten, führte das Schicksal der in Idomeni festsitzenden Menschen zu keinen politischen Aufnahmegesten. Außenminister Sebastian Kurz meinte sogar, dass Flüchtlinge "mit Polizeigewalt aufgehalten werden müssen". Nur dass dies dann die Türken erledigen und sich die Europäer die Hände nicht schmutzig machen müssen.

Selbst die deutsche Regierungschefin Angela Merkel, die die Vereinbarung mit der Türkei federführend angestrebt hat, kann nicht mehr in Anspruch nehmen, Kanzlerin einer "moralischen Leitnation" zu sein. Deutschlands grüner Ex-Außenminister Joschka Fischer versuchte in einem Zeit-Beitrag eine Rechtfertigung: Die Kunst demokratischer Außenpolitik bestehe darin, "dass möglichst wenige Widersprüche zwischen Werten und Interessen auftreten". Nach diesem interessengetriebenen Deal mit der Türkei können die Europäer nicht mehr in aller Welt als Moralapostel auftreten. (Alexandra Föderl-Schmid, 25.3.2016)