"Es müsste viel mehr Wörter zwischen Schuld und Unschuld geben": Anna Mitgutsch.

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Dies ist ein Buch über das Schweigen. Wie eine Archäologin arbeitet sich Anna Mitgutsch durch die Schichten eines fast schon vergangenen Lebens und bleibt doch ganz in der Gegenwart.

Den Kern des Geschehens bildet eine Vater-Tochter-Beziehung, die bestimmt ist durch das Schweigen, durch die Unfähigkeit, die ungeheuerliche Anstrengung zu unternehmen, einander näherzukommen. Es sieht zunächst so aus, als ob es ein spezifisches Generationenproblem sei, dieses Schweigen der Väter über das, was sie im Nationalsozialismus getan oder erlebt haben, aber es geht ebenso um die prinzipielle Wortlosigkeit, die sich fortsetzt bei den Nachkommen, die längst nicht mehr in dieser Zeit leben.

Es sind nur ganz wenige Menschen, die Mitgutsch schmerzhaft genau betrachtet: der siebenundneunzigjährige Theo, seine Tochter Frieda, Theos zweite Frau Berta und die illegal arbeitende Pflegerin Ludmila aus der Ukraine. Als Theo Berta geheiratet hat, ist Frieda ausgezogen. Sie hat Eifersucht und Verbitterung jahrzehntelang mit sich herumgetragen.

Jetzt ist Theo pflegebedürftig, und Frieda wird von Berta geduldet, sie kann die überforderte Ehefrau entlasten. Als die Pflegerin Ludmila in das Haus aufgenommen werden muss, sieht Frieda sich ein weiteres Mal weggeschoben. Denn Theo entwickelt eine intensive, freundschaftliche Beziehung zu Ludmila, die auch Berta eifersüchtig macht.

Was damals geschah

Frieda, die schon als Jugendliche von ihrem Vater hören wollte, was er als Soldat im Krieg gemacht hat, erfährt von Theo, dass er sich in den letzten Kriegsmonaten als Deserteur durchgeschlagen hat. Theo fühlt sich jedoch nach wie vor außerstande, jemandem, der das alles nicht erlebt hat, auch nur ansatzweise zu erklären, was damals geschah oder was er gefühlt hat.

Als Berta Ludmila schließlich hinausekelt, reist diese in die Ukraine zurück, und Theo ist todunglücklich. Er bittet Frieda, in die Ukraine zu reisen und Ludmila zur Rückkehr zu überreden. Er überlässt ihr ein überraschendes Geschenk, sein Kriegstagebuch. Frieda hofft, hier die Antwort auf ihre Jahrzehnte alten Fragen zu finden, und besucht auf ihrer Reise in den Osten all die Städte, die der Vater erwähnt hat.

Aber auch hier: Schweigen. Das Schweigen des Vaters spiegelt sich im Schweigen der Bevölkerung wider. Die Fremdenführer, widerwillig bis ignorant, zeigen dieser insistierenden Fremden kaum zu erkennende historische Spuren. Die Synagogen sind längst zerstört – wer hätte sie auch wiederaufbauen sollen – oder in Kinos und Restaurants verwandelt, die Massengräber unter Parks verschwunden, deren Namen keiner kennt. Niemand will sich erinnern.

Auch das Kriegstagebuch schweigt. Wochenlang hat der Vater keine Eintragungen gemacht, nur die Orte verzeichnet, nüchterne Angaben über abgeschossene Panzer und die Route des Vormarsches notiert.

Was geschah in den Wochen, in denen er nichts aufzeichnete? Es sind die Lücken, die Frieda zutiefst beunruhigen. "Sind wir alle Kinder von Mördern?", fragt Frieda ihren Freund Edgar, der sie auf der Reise nach Galizien begleitet. "Es müsste viel mehr Wörter zwischen Schuld und Unschuld geben", sagt dieser. Aber was die beiden sehen, diese Spuren der Vergangenheit, die vergessenen Reste der verbrannten Erde, entschuldigt nichts und niemanden.

Es ist eine gespenstische Spurensuche, die letztlich erfolglos ist. Denn auch Ludmila wird nicht mehr zurückkehren. Ihre laute und lebhafte Großfamilie ist gleichsam das Gegenbild zu der erstarrten Rumpffamilie Friedas. Hier ist man arm, aber nicht allein. Ludmila ist wieder in ihre eigene Welt eingetaucht.

Ambivalenzen

Anna Mitgutsch gelingt es, mit so wenigen Figuren und scheinbar wenig äußerer Handlung eine Spannung aufzubauen, die sich auch aus der Ambivalenz ihrer Protagonisten herleitet. Berta, dumm und boshaft, dennoch bemitleidenswert, Theo, ein Zauderer von Natur aus, bedürfnislos, der früh gelernt hat, sich mit allem abzufinden, das sind keine Romanhelden, keine bemerkenswerten Menschen, sie laden nicht zur Identifikation ein und interessieren doch bis zum Schluss.

Frieda, die aus der Ich-Perspektive erzählt, erscheint oft selbstgerecht, ja penetrant, und warum verlangt sie von ihrem Vater, der das offene Sprechen von sich nie gelernt hat, etwas, das sie selbst auch nicht zustande bringt? Ihre eigene Tochter ist ihr ja genauso entfremdet wie sie ihrem Vater.

Irgendwann ist es zu spät, einen letzten Versuch zu wagen. Doch irgendwie glaubt man ja, dass es ja doch noch eine Gelegenheit geben wird, einander wirklich nahezukommen. Dieses "Zu spät" wird einem umso bewusster, je älter man selbst wird.

Der Titel des Romans, Die Annäherung, evoziert dennoch Hoffnung. Diese innere Lähmung ist überwindbar. Ja, das Schweigen pflanzt sich über Generationen fort, aber es kann aufgebrochen werden – und wenn es eine Umarmung neben einem offenen Grab ist. Wie immer bei Mitgutsch ist dies ein fordernder Text, der einem naherückt, aber in seiner Genauigkeit und – man kann es nicht anders benennen – Gerechtigkeit auch tröstet. (Ingeborg Sperl, Album, 27.3.2016)