Kinder in einer Warteschlange unweit des Zeltlagers in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze. Europa kümmere sich um Minderjährige auf der Flucht viel zu wenig, sagt der FRA-Chef.

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Will Mythen und Falschmeldungen Fakten entgegenhalten: Michael O'Flaherty.

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Der Ire Michael O'Flaherty ist seit Dezember 2015 der neue Direktor der Grunrechteagentur der EU (FRA). Im Quellenberuf Jurist und Theologe war der 57-jährige in den 1980er-Jahren Priester im irischen Bistum Galway, bevor er zur Uno wechselte. Dort nahm er an den Missionen in Bosnien-Herzegowina und Sierra Leone teil, was ihn mehrfach in Lebensgefahr brachte. Im Interview mit dem STANDARD spricht er von einem "gemeinsamen Raum" von allen Glaubensrichtungen und menschenrechtlichem Engagement. Europa, so meint er, habe keinen Grund, in Menschenrechtsfragen selbstgefällig zu sein. Mythen und Fehlannahmen, etwa über Flüchtlinge und Migranten, seien ebenso verbreitet wie die Praxis, Kinder mit Migrationshintergrund in der Schule zu segregieren.

STANDARD: Sie stehen der wichtigsten EU-Menschenrechtsinstitution vor. Zu Beginn Ihrer Laufbahn jedoch waren Sie katholischer Priester. Ist die katholische Herangehensweise weiter wichtig für Sie?

O'Flaherty: Ja – im Privaten.

STANDARD: Nicht in Ihrem menschenrechtlichen Engagement?

O'Flaherty: Anfangs war das so, doch inzwischen wurzeln meine menschenrechtlichen Überzeugungen in den internationalen Abkommen. Aber ich denke, dass es wichtig ist, sich wieder näher mit Menschen aller Glaubensrichtungen auseinanderzusetzen, um den gemeinsamen Raum auszuloten, von dem aus wir eine gerechtere Gesellschaft aufbauen können.

STANDARD: Wo genau liegt dieser gemeinsame Raum?

O'Flaherty: Nehmen wir, um bei den Christen zu bleiben, zum Beispiel die Quäker. Die machen wichtige Menschenrechtsarbeit an der Basis, wenn sie in den USA mit der Uno Kinder weiblicher Strafgefangener unterstützen.

STANDARD: Gehört auch das religionsgebundene Engagement in der Flüchtlingsfrage in diesen Raum? Die Positionen von Caritas oder Diakonie sind den Bedürfnissen der Flüchtlinge und Migranten ja manchmal näher als jene mancher EU-Regierungen.

O'Flaherty: Als Direktor der FRA kann und will ich EU-Regierungspolitiken nicht kommentieren. Das fällt nicht in den Aufgabenbereich der Agentur.

STANDARD: Dann frage ich Sie allgemeiner: Warum ist die Flüchtlingsfrage in der EU gar so umstritten?

O'Flaherty: Lassen Sie mich folgendermaßen antworten: Eine Kernaufgabe der FRA ist, Politikern und Bevölkerung solides, faktenbasiertes Wissen zu liefern, um den vielen Fehlannahmen und Mythen zu widersprechen, die es etwa über Migranten und Flüchtlinge gibt. Nehmen wir die Silvester-Übergriffe auf Frauen in Köln. Danach hieß es, die Migranten hätten sexuelle Gewalt gegen Frauen nach Europa importiert. Das stimmt nicht, wie eine FRA-Studie zeigt: Gewalt gegen Frauen, vor allem im Privatbereich, ist genauso ein einheimisches, europäisches Phänomen.

STANDARD: Das ist nicht neu. Gibt es Studienergebnisse zur Migration, die Sie überrascht haben?

O'Flaherty: Ein noch unveröffentlichter FRA-Bericht hat ergeben, dass Kinder mit Migrationshintergrund in rund der Hälfte der EU-Staaten in der Schule segregiert werden. Das hat oft sozioökonomische Gründe, aber warum auch immer: Die Ausgrenzung von hochwertiger Bildung und der folgende Mangel an Gleichberechtigung führt zu Marginalisierung, die Migranten generationenlang verfolgen kann.

STANDARD: Wo genau in der EU wird auf diese Art schulisch segregiert?

O'Flaherty: Das Problem besteht quer durch die Union. Überhaupt wird die Lage von Minderheiten in der EU gern als viel zu rosig eingeschätzt. So sagt mehr als die Hälfte aller homosexuellen Paare, dass sie sich aus Furcht vor Repressalien öffentlich nicht trauen, Händchen zu halten. Und zwar nicht nur in jenen Mitgliedstaaten, wo es starke Vorurteile gegen Homosexuelle gibt, sondern in jedem einzelnen Land der EU.

STANDARD: Was genau helfen Fakten gegen Vorurteile und Mythen?

O'Flaherty: Für sich allein gar nichts. Sie müssen in eine europäische Grundrechtskultur eingebettet werden. Es gilt, Menschen, deren Grundrechte verletzt wurden, zu unterstützen: durch Grundrechtsinformation in Schulen, Betrieben, Kommunen.

STANDARD: Wird die FRA also künftig einen Schwerpunkt auf Grundrechtsschulungen legen?

O'Flaherty: Genau das, es wird verstärkt um Grundrechtsermächtigung und -vernetzung gehen.

STANDARD: Die FRA veröffentlicht seit 2016 Monatsreports zum Umgang mit Flüchtlingen und Migranten. Was steht im nächsten Bericht?

O'Flaherty: Wir sehen, dass Menschen bereit sind, immer größere Risiken auf sich zu nehmen, dass sie trotz Verletzungen oder Krankheit nach Europa kommen – auch unbegleitete Kinder, von denen viele aus den Erstaufnahmezentren verschwinden, was sie in akute Ausbeutungsgefahr bringt. Das wird ein Schwerpunkt des neuen Monatsberichts sein. (Irene Brickner, 25.3.2016)