MDR-Chefredakteur Stefan Raue: "Meine These ist, dass Pegida und ähnliche Bewegungen einen geistigen Bürgerkrieg gegen Medien und Altparteien ausgerufen haben."

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Pegida-Anhänger bei einer Demonstration am 9. Jänner 2016 in Köln.

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STANDARD: Wie oft und seit wann hören Sie das Wort "Lügenpresse" oder "Systempresse"?

Raue: Das geht jetzt schon zwei Jahre. Laut geworden ist es mit den Anfängen von Pegida. Man darf nicht vergessen, dass Pegida in Dresden nicht erst seit der Flüchtlingskrise marschiert, sondern schon früher damit angefangen hat.

STANDARD: Nimmt die Intensität zu?

Raue: Es hält sich auf hohem Niveau. Zuerst gab es großes Erschrecken, weil man das nicht kennt. Es betrifft ja nicht nur die öffentlich-rechtlichen Sender, sondern auch die Printkollegen und die Privatsender. Ich berichte seit Jahrzehnten über politische Bewegungen in Deutschland, und mit Ausnahme von ganz radikalen Vertretern der Anti-G8-Bewegung habe ich noch nie erlebt, dass eine Protestbewegung die Medien selbst so aufs Korn nimmt. Die Atomgegner, die Friedensbewegung oder Stuttgart 21 haben es immer darauf angelegt, die Medien ins Boot zu holen. Pegida wendet sich ausgesprochen gegen Medien, das ist eine neue Zuspitzung.

STANDARD: Müssen Sie sich als Chefredakteur vorwerfen, bei der Berichterstattung Fehler gemacht zu haben, dass diese Kluft entstehen konnte?

Raue: Nach dem ersten Schock sind wir auf die Menschen zugegangen und haben gefragt: Was meint ihr denn konkret? Mir fällt auf, und das war auch schon im Zusammenhang mit der Ukraine-Russland-Berichterstattung so: sehr viel Vorwurf, aber wenig Fakten. Wir belegen, dass wir berichtet haben und wie wir berichten. Das wird nicht zur Kenntnis genommen. Wir konstatieren, dass sich das Misstrauen in diesem Teil der Bewegung so verselbstständigt hat, dass das auch nicht durch einen offenen Dialog zu kitten ist. Wir können nur zu jenen Brücken bauen, die noch nicht so verbohrt sind und trotz Misstrauens zugänglich sind.

STANDARD: Manifestiert sich dieses Misstrauen auch in persönlichen Attacken auf Ihre Journalisten? Etwa bei Pegida-Demonstrationen?

Raue: Von Kollegen hört man, dass sowohl im Westen, aber vor allem im Osten die Übergriffe gegen Journalisten zunehmen. Nicht nur die verbale Gewalt, wenn etwa Namen von Reportern auf der Bühne von den Pegida-Leuten genannt werden, um sie an den Pranger zu stellen. Dann gibt es Buhrufe und Schimpfworte, es geht aber sogar bis zu Schlägen und Reizgasattacken. Gerade erst ist ein Kollege des Bayerischen Rundfunks angegriffen worden. Beim MDR hatten wir auch schon einige Fälle.

STANDARD: Laut Journalistenverband gab es 2015 49 Angriffe auf Reporter und Kameraleute, allein 30 davon in Sachsen. Wie gehen Ihre Journalisten damit um?

Raue: Wir haben ein Bündel von Maßnahmen und schicken nur erfahrene Kollegen hin. Das ist nichts für Berufsanfänger. Wir schauen, dass Teams unterwegs sind, die sich gegenseitig warnen und schützen können. In besonderen Fällen nehmen wir auch Aufnahmeleiter, die kräftig sind, oder wir nehmen Leute aus Sicherheitsunternehmen mit. Und wir sprechen natürlich mit der Polizei, dass die uns unterstützt, was bei solchen Demonstrationen allerdings nicht immer ganz einfach ist.

STANDARD: Warum?

Raue: Da wir Journalisten sind, gehen wir nicht zum Gaffen hin, sondern um zu berichten. Auch wenn es schwierig ist, die Bedrohung spürbar ist, man selbst beleidigt wird, muss man trotzdem Journalist sein und distanziert und cool darüber berichten, ohne sich provozieren zu lassen. Meine These ist, dass Pegida und ähnliche Bewegungen einen geistigen Bürgerkrieg gegen Medien und Altparteien ausgerufen haben. Wir dürfen diese Kriegserklärung nicht annehmen, sondern müssen weiterhin professionell unsere Arbeit machen. Wir prügeln uns nicht mit Pegida.

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Pegida-Demonstration am 6. Februar in Dresden.
Foto: Reuters / Hanschke

STANDARD: In dem MDR-Kerngebiet Sachsen-Anhalt hat die AfD bei der Landtagswahl fast 25 Prozent erreicht. Was sagen Sie zu dem Vorwurf, dass die Partei von Medien tabuisiert wird?

Raue: Das ist eine Masche der AfD. Sie sagt das, seit es sie gibt. Als Chefredakteur war ich selbst bei allen Bundesparteitagen der AfD dabei. Ich weiß sehr genau, wie deutsche Medien über diese Partei berichtet haben: seit Anfang an fasziniert. Nicht im Sinne von positiv fasziniert, sondern höchst interessiert, weil da plötzlich eine europakritische Alternative auf die Bühne kam. Die AfD ist nicht verschwiegen worden, ganz im Gegenteil. Sie ist gern gesehener Gast in Talksendungen, sie finden kaum ein Podium ohne AfD-Mitglieder. Die AfD ist überproportional präsent in deutschen Medien. Ein weiterer Vorwurf ist, dass wir falsch über sie berichten. Diesen Vorwurf hat die AfD nicht exklusiv, das glauben die anderen Parteien auch.

STANDARD: Haben sich Medien zu wenig mit den Inhalten der AfD auseinandergesetzt?

Raue: Zunächst möchte ich Folgendes sagen: Armin Wolf hat letztens gesagt, dass "Lügenpresse" ganz an der Wirklichkeit vorbeigeht, man uns aber gelegentlich "Fehlerpresse" nennen kann. Das ist richtig, wir sind alle Menschen, wir sind alle fehlbar. Zweitens: Die AfD hat in den letzten Jahren in erster Linie Personalauseinandersetzungen gepflegt. Lucke gegen Petry, die ganzen Intrigen auf den Parteitagen. Wenn Sie sich deren Parteitage ansehen, merken Sie, dass es weniger um Inhalte und Programm geht, sondern mehr um Satzung, Finanzprobleme und Personalintrigen. Genau das haben wir gespiegelt.

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Nach einem monatelangen Machtkampf setzte sich an der Spitze der Afd (Alternative für Deutschland) Frauke Petry gegen Bernd Lucke durch.
Foto: Reuters / Rattay

STANDARD: Welche Strategie verfolgen Sie, um aus dem "Lügenpresse"-Eck hinauszukommen?

Raue: Bei der AfD ist es so, dass wir sie als politisches Phänomen ernst nehmen sollen. Ihr keinen besonderen Rang einräumen. In Bezug auf Pegida und der "Lügenpresse" muss man sagen: Im Großen und Ganzen vertraut uns das Publikum weiterhin, gerade den Öffentlich-Rechtlichen, aber wir haben zu viele Menschen, die im Prinzip bereits von uns Abschied genommen haben. Da müssen wir ran, also raus aus den Redaktionsstuben und den Zentralredaktionen, um den lokalen Journalismus wieder stärker zu pflegen. Wir müssen ansprechbar sein, damit die Menschen nicht das Gefühl haben, dass wir abgehoben irgendwo in einem Treibhaus sitzen oder in einer Blase mit den Politikern und Wirtschaftsbossen. So könnten wir diese Glaubwürdigkeitskrise gut in den Griff bekommen.

STANDARD: Ist der Abstand zu den Menschen ist also zu groß geworden? Als Beispiel haben Sie bei einer Diskussion Hartz-IV-Empfänger genannt, deren Sorgen nicht ernst genug genommen wurden.

Raue: So ist es. Der Medienbereich ist im Umbruch. Werden viele Redaktionen aufgelöst, um in Zentralredaktionen zusammengeführt zu werden, bedeutet das mehr Abstand zu den Bürgern und Lesern. Wenn bei elektronischen Medien politische Berichterstattung mehr und mehr aus der Hauptstadt gemacht wird und weniger aus den Regionen, ist diese Distanz zu groß. Umgeben wir Journalisten uns bei gesellschaftlichen Empfängen zu sehr mit Wirtschaftseliten und sind mit Politikern auf Du und Du, dann verstärkt das diesen Eindruck. Das müssen wir alles lassen, das ist nicht unser Job.

STANDARD: ORF-Moderator Armin Wolf hat kürzlich bei einer Podiumsdiskussion mit Ihnen gemeint, dass die Akademisierung des Journalistenberufs ein Problem sei, weil Redakteure aus bürgerlichen Familien manchmal der Bezug zu wichtigen Themen fehle.

Raue: Mein Eindruck für Deutschland ist ein anderer. Vor einigen Jahren hatten wir eine starke Veränderung des Studienbetriebs im Rahmen des Bologna-Prozesses. Eine klare Verschulung und Verkürzung. So wie es zu meiner Zeit war, mit über zehn Semestern Studium, dann ein Volontariat und später in den Beruf, das gibt es nicht mehr. Jetzt studieren viele nur sechs Semester und drängen schon sehr früh und noch während des Studiums in den Beruf. Diesen Trend zur Akademisierung erkenne ich hier nicht. Was ich erkenne, ist, dass wir zunehmend Schwierigkeiten haben, junge Leute für Politik als Thema zu gewinnen. Sie bringen eine größere Distanz zum politischen Betrieb mit. Da geht man lieber in die Lebensstilgeschichten, in Richtung Kultur oder Sport. Der zweite Trend ist, dass man jungen Journalisten zu wenig Zeit lässt, über Jahre bestimmte Kernkompetenzen in Fachbereichen aufzubauen. Der Trend zum Universalisten ist da.

STANDARD: Die Berichte über die Übergriffe in der Silvesternacht in Köln seien keine Sternstunde des Journalismus gewesen, haben Sie gesagt. Was ist aus Sicht des MDR schiefgelaufen?

Raue: Als MDR waren wir betroffen, wie wir "brisant" für das Erste produzierten, was am Montag gesendet wurde. Köln war keine Sternstunde des Journalismus, weil wir alle an diesem Neujahrswochenende zu wenig recherchiert haben. Ab Montag gab es kaum eine Sendung oder Zeitung ohne minutenlange oder seitenweise Berichterstattung über Köln. Das zentrale Problem war, warum erst dann und nicht früher? Da sind Fehler passiert, weil wir nicht auf die alten Reportertugenden vertraut haben und gesagt haben: Da ist was im Gange, wir schicken Leute hin, die ganz schnell darüber recherchieren. Leute, die nicht nur Facebook glauben und sich nicht damit abfinden, wenn die Polizei sagt, es ist nichts passiert, sondern trüffelschweinartig rausbekommen, was da eigentlich war.

Demonstration nach den Übergriffen am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht. Die Täter sollen vornehmlich junge Männer vornehmlich aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum gewesen sein.
Foto: APA/dpa/Oliver Berg

STANDARD: Bewusst verschwiegen oder gelogen wurde nicht?

Raue: Ab Montag ist mit einer Riesenwelle berichtet worden, das ist überhaupt kein verschwiegenes Thema gewesen. Als Reporter müssen wir aber unabhängig von Pressemitteilungen und Agenturen in der Lage sein, Dinge rauszukommen, das ist unser Job, und das haben wir an diesem Wochenende nicht geschafft. Es hat auch damit zu tun, dass wir sehr auf die Bombendrohungen in München fixiert waren. Die ersten Meldungen aus Köln, dass es Übergriffe auf der Domplatte gab, haben wir als die normalen Silversterübergriffe gesehen. Diese Dimension konnte sich keiner vorstellen, und es hat Tage gedauert, bis sich das gesamte Bild gezeichnet hat. Nicht nur bei den Medien, sondern auch bei der Polizei und den staatlichen Stellen. Es wurde nicht gelogen, sondern zu spät berichtet.

STANDARD: Wir bekommen oft zu hören, dass wir im Ukraine-Konflikt zu russlandfeindlich berichten. Wie ist das bei Ihnen?

Raue: Bei Russland-Ukraine kommt der Protest von beiden Seiten. Die eine Hälfte des Schreibtisches war voll mit Beschwerden, dass wir zu russlandfreundlich sind, die andere hat uns Ukrainefreundlichkeit vorgeworfen. Das ist ein sehr emotionaler Konflikt, der auch bewusst aufgestachelt wurde. Russland hatte großes Interesse, diese Diskussion hier sehr offensiv zu führen. Das gehört zu einer Kriegsführung dazu. Wir schauen uns die Sendungen und Formate dann an. Bei der einen oder anderen kann es sein, dass es zu emotional war, wenn etwa ein Reporter im Kriegsgebiet ist, es hinter ihm kracht und er Tote sieht. Formulierungen sind dann nicht immer so sauber wie im Studio, aber im Großen und Ganzen habe ich keine verquere Berichterstattung darüber gesehen. Programmbeschwerden in dieser Richtung hatten auch keinen Erfolg.

STANDARD: Ein weiterer Vorwurf lautet, dass Medien die Herkunft von Tätern und Verdächtigen verschweigen.

Raue: Diese Diskussion betrifft vor allem Printmedien, weil die mit dem deutschen Pressekodex eine bestimmte Orientierung haben und es viele Beschwerden beim Presserat gibt. Als öffentlich-rechtlicher Sender orientieren wir uns an diesem Kodex. Für einen Nachrichtenjournalisten ist das ganz einfach: Ich benutze Formulierungen, die notwendig sind, um etwas zu erklären. Relevant ist die Herkunft etwa, wenn ein Schweizer im Grenzgebiet eine Tat begeht oder wenn es sich um eine niederländische Bande handelt, die benachbarten Niedersachsen tätig ist. Da fragt man sich: Wo sind die Täter? Überflüssigen Text brauche ich nicht in der Nachricht. Also: Nennung der Herkunft, wenn es relevant ist, und nicht, weil es moralisch geboten ist.

STANDARD: Sie haben letztens von dem Problem geredet, dass Redaktionen mit Falschinformationen bombardiert werden, was wiederum Ressourcen bindet.

Raue: Noch schlimmer ist die Polizei betroffen. Sie wird überhäuft mit anonymen Anzeigen und Hinweisen. Dann fahren die beispielsweise zum Supermarkt, und es hat kein Überfall stattgefunden. Solche Mitteilungen bekommen wir auch, das läuft sehr viel über Facebook oder anonyme Mails, dass da etwas verschwiegen wird, dort eine Krankheit ausgebrochen ist oder hier Kinder vergewaltigt wurden. Natürlich müssen wir dem nachgehen und es als regionaler Sender ernst nehmen. Meistens sind es aber Gerüchte, die gestreut werden, um Menschen zu verunsichern. Das bindet Ressourcen.

STANDARD: Und fast immer geht es um Flüchtlinge?

Raue: Genau. Das ist der Kern der Geschichte, dass die Flüchtlinge dies und das machen. Umgekehrt kommt es weniger vor, dass jemand anruft und sagt, dass ein Flüchtlingsheim angegriffen wurde. Meistens sind es Gerüchte, was Flüchtlinge nicht alles für schlimme Sachen machen.

STANDARD: Sie haben dafür das Wort "Pogromstimmung" in den Mund genommen. Trifft das zu?

Raue: Das ist ein Zitat des wichtigsten Polizisten Sachsens. Er beobachtet die Entwicklung seit vielen Jahren und hat festgestellt, dass sich in manchen Orten oder rund um Flüchtlingsheimen eine Art Pogromstimmung gebildet hat. Ich habe das Gefühl, dass er das richtig sieht, wenn man zum Beispiel Clausnitz nimmt.

STANDARD: Welche Rolle spielen für den MDR Twitter und Facebook?

Raue: Davon betroffen sind alle Medien. Zum ersten Mal habe ich das erlebt, als ich noch beim ZDF war und in der Sarrazin-Debatte gebloggt habe. Da gab es eine Riesenwutwelle und in einer Tonlage, die ich bis dahin noch nicht kannte. Leute können anonym bleiben, was den Diskussionsstil verrohen lässt. Das nimmt solche Formen an, dass Kollegen das bei der Polizei anzeigen. Da sind strafrechtlich relevante Bedrohungen dabei, die bis zu Morddrohungen gehen. Für Kollegen ist das sehr belastend. Bei "tagesschau.de" landen an manchen Tagen bis zu 10.000 Kommentare. Wir stoppen das an dem Punkt, wenn nur noch Unflat kommt. Ich vermisse die faire, offene, vielschichtige Diskussion. Gerade bei brisanten Themen wie der Flüchtlingsproblematik habe ich das Gefühl, dass sich nur noch eine Seite artikuliert. Das sind die Flüchtlingsgegner. Dadurch gibt es dieses unausgewogene Bild. (Oliver Mark, 24.3.2016)