Farbenfroh in neue Zeiten: eine Brexit-Befürworterin auf einer Kundgebung in London. Abgestimmt wird Ende Juni.

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Ratschläge von außen bekommen die Briten zur Genüge. Gern versehen Politiker, Generäle und Wirtschaftsführer ihre Ausführungen mit dem Hinweis, natürlich liege "die Entscheidung nur bei den Briten". Was nicht einmal ganz korrekt ist: Wie bei Unterhauswahlen dürfen auch auf der Insel lebende Iren und Bürger von Commonwealth-Staaten wie Australien oder Ghana mitstimmen. Zyprioten und Malteser erhalten also wie die Iren ein Privileg, das anderen EU-Bürgern vorenthalten wird.

Vielleicht drückte sich Maltas Premierminister Joseph Muscat (42) deshalb so unverblümt aus, als er jetzt beim ehrwürdigen Londoner Thinktank Chatham House sprach: Er wandte sich an die eigenen Landsleute. Wie bereits vor Wochen sein irischer Kollege Enda Kenny, ließ der selbstbewusste Regierungschef der knapp 450.000 Einwohner zählenden Mittelmeerinsel keinen Zweifel an seinem Wunschergebnis: Ein Ja zur EU liegt im eigenen wie im britischen Interesse.

"Euro-Realisten"

So weit, so konventionell – Ähnliches haben auch US-Präsident Barack Obama, Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel oder der chinesische Präsident Xi Jinping schon gesagt. Deutlicher als die Großmächte malte Muscat die negativen Folgen des möglichen EU-Austritts (Brexit) an die Wand. Dieser würde den Briten auf der internationalen Bühne weniger Einfluss bringen: "Man kann Europa verlassen, aber nicht die Welt", sagte der Labour-Mann und wandte sich damit nicht zuletzt an die Isolationisten in der britischen Schwesterpartei, deren Chef Jeremy Corbyn im Abstimmungskampf zögerlich auftritt.

Auch Muscat steht dem Brüsseler Club und der gemeinsamen Währung durchaus skeptisch gegenüber: Beim heimischen Referendum warb er mit seiner Partei gegen den Beitritt. Seither zählt sich der Premier zu den "vernünftigen Proeuropäern" und, aufs Geld bezogen, zu den "Euro-Realisten". Die Briten sieht Muscat als "unabdingbaren Teil der Balance" im Machtgefüge der 28 Mitgliedstaaten. Was auch bedeutet: Im Falle des Brexit hätten sie es mit einer veränderten EU zu tun. "Das Vereinigte Königreich würde als Freund behandelt, nicht mehr als Teil der Familie. Es bekäme Respekt, aber kein Vertrauen." Harte Worte vom Vertreter einer früheren Kolonie. Wie aber sehen normale Bürger auf dem Kontinent die Brexit-Debatte? Ganz viele wünschen sich ihre eigene Volksabstimmung, ergibt jetzt eine in sechs EU-Ländern durchgeführte repräsentative Umfrage im Auftrag der Uni Edinburgh.

Lust auf ein Referendum

45 Prozent der Deutschen, 47 Prozent der Spanier und sogar mehr als die Hälfte aller Franzosen (53 Prozent) möchten es den Briten gleichtun. Anders als auf der Insel scheint die Sehnsucht nach einem Referendum aber nicht automatisch eine Chiffre für EU-Feindseligkeit zu sein. Wie würden Sie abstimmen, fragten die Marktforscher der Firma Millwall – und erhielten eine klare Mehrheit für den EU-Verbleib in Deutschland (60 Prozent), sogar Zweidrittelmehrheiten in Polen, Spanien und Irland. Hingegen zeigen sich deutlich weniger Schweden (42) und Franzosen (45) klar überzeugt vom Brüsseler Club.

Dass die Briten dazugehören, finden mehrheitlich alle Kontinentaleuropäer, freilich mit deutlich unterschiedlicher Begeisterung. 56 Prozent der Franzosen wünschen sich ein Ja-Votum, aber zwei Drittel der Schweden, 73 Prozent in Deutschland und sogar rund 80 von 100 Bürgern in Spanien, Irland und Polen. Die meisten scheinen zu wissen, was Soziologe Jan Eichhorn von der Uni Edinburgh so zusammenfasst: "Das britische Referendum wird nicht nur Konsequenzen für das Vereinigte Königreich haben, sondern für die gesamte EU, und zwar unabhängig vom Ausgang."

Eine weitere Studie wurde unterdessen zu Wochenbeginn über die angeblichen Kosten eines Brexit für Großbritannien publiziert. Bis zum Jahr 2020 könnten sich die Kosten für die Wirtschaft des Landes auf 100 Milliarden Pfund (128 Milliarden Euro) summieren, und 950.000 Jobs würden nach einem Austritt des Landes aus der EU verlorengehen, ergab eine Untersuchung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC im Auftrag des Industrieverbandes CBI. Die Briten stimmen am 23. Juni über ihren Verbleib in der EU ab. (Sebastian Borger aus London, 22.3.2016)