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Trotzige Botschaft: "Wir sind hier, haben keine Angst, sind nicht allein", stand auf einem Plakat am Ort des jüngsten Anschlags in Istanbul.

Foto: Reuters / Osman Orsal

Athen/Istanbul – Die Karte mit dem aktuellen Verkehrsbericht zeigt Grün, alle Straßen sind frei, als ob Feiertag, Schneesturm und Nebel in einem wären. Den Istanbulern ist die Lust am Ausgehen vergangen. Die Wirtschaftsmetropole am Bosporus mit ihren vielleicht 14 Millionen Menschen stand am Sonntag noch unter Schock. Der Terroranschlag, seit Tagen gerüchteweise angekündigt in den Zeitungen und sozialen Medien, kam Samstagvormittag tatsächlich. Vier Touristen reißt ein Selbstmordattentäter mit in den Tod. Von den 39 Verletzten werden am Sonntag noch 15 im Spital behandelt. Den Attentäter schickte die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS), so gibt der türkische Innenminister bekannt.

Mehmet Öztürk, so soll er heißen, sprengte sich in der Balo Sokak in die Luft, einer Seitengasse etwa in der Mitte von Istanbuls vielbesuchter Einkaufsmeile, der İstiklâl Caddesi. Zehntausende sind dort jeden Tag bis spät in die Nacht zu Fuß unterwegs. Der Attentäter wollte auch direkt auf die Einkaufsstraße, erklärten die Ermittler. Doch die Polizeipräsenz habe ihn abgeschreckt. Die Balo Sokak liegt rechter Hand vom Galatasaray-Gymnasium, wo sich die İstiklâl Caddesi weitet und noch mehr Passanten zirkulieren. Dort steht immer ein Polizeikommando.

Särge im Fernsehen

Seit Monaten lebt die Türkei nun im Rhythmus von Terroranschlägen und Kriegsmeldungen. Regelmäßig sehen die Türken im Fernsehen Begräbnisfeiern mit den Särgen von Zivilisten nach den Anschlägen oder von Soldaten und Polizisten, die bei den Kämpfen in den Kurdenstädten im Südosten ums Leben kommen. Die Psyche der Nation leidet.

Die Anschläge in den zwei großen Städten des Landes folgen dazu immer schneller aufeinander: Eine Woche erst liegt das Selbstmordattentat einer Splittergruppe der PKK an einer Bushaltestelle in Ankara zurück; einen Monat erst der andere Terrorakt dieser Gruppe, der Freiheitsfalken Kurdistans (TAK), auf Soldaten im Regierungsviertel der Hauptstadt. Im Jänner wiederum war es der IS, der ein Selbstmordattentat in Istanbul verübte; zwölf deutsche Touristen kamen bei der Explosion vor der Blauen Moschee im Stadtteil Sultanahmet ums Leben.

Enormer Schaden für Tourismus

Für den Tourismus ist die Anschlagsserie verheerend. Von Reisen in den Südosten der Türkei und in die Nähe der Grenze zum Bürgerkriegsland Syrien rät das Außenamt in Wien schon lange ab. Stark frequentierte Plätze sowie Staats- und Regierungsgebäude seien dringend zu meiden, heißt es nun auf der Webseite des Ministeriums.

Dabei werden vor allem Anschläge des IS in Istanbul schon seit dem Sommer 2015 erwartet. Damals erklärten Regierung und Staatspräsident sowohl der PKK wie auch dem IS den Krieg. Spaziergänge auf dem Taksim-Platz, der İstiklâl Caddesi oder in Sultanahmet sind seither trotz aller Polizeipräsenz und Kameraüberwachungen nicht mehr risikolos. Dasselbe gilt für den öffentlichen Transport in Istanbul, wo Personen und Gepäck nur sporadisch kontrolliert werden können.

Opfer aus Israel und Iran

Die israelische Regierung gab am Sonntag eine Reisewarnung für die Türkei heraus. Drei der jüngsten Terroropfer waren Israelis – zwei von ihnen hatten dazu noch die US-Staatsbürgerschaft –, das vierte Opfer kam aus dem Iran. Die deutsche Regierung schloss am Mittwochabend nach konkreten Hinweisen auf einen geplanten Anschlag des IS ihre Botschaft in Ankara und das Generalkonsulat in Istanbul. Am frühen Sonntagabend meldeten türkische Medien, dass entschieden wurde, das lokale Fußballderby zwischen Galatasaray und Fenerbahçe aus Sicherheitsgründen abzusagen. Die Türkei werde "alle Formen des Terrorismus bekämpfen", ließ Regierungschef Ahmet Davutoğlu erklären.

Die Spannung im Land war ohnehin hoch: Am Montag feiern die Kurden das Frühlingsfest. Anders als in den vergangenen Jahren steht das Newroz-Fest im Schatten des Kriegs in den kurdischen Städten. Statt Friedensbotschaften des inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan wird nur mehr Gewalt erwartet.

Kundgebung aufgelöst

So löste die türkische Polizei am Sonntag im Istanbuler Stadtteil Bakırköy eine Newroz-Kundgebung von einigen Hundert Kurden auf und nahm ein Dutzend Personen fest. Die traditionelle Feier in Diyarbakır, zu der in der Vergangenheit einige Hunderttausend Teilnehmer kamen, wurde von den Behörden aber genehmigt.

Staatschef Erdoğan antwortet auf die Terrorserie mit der Forderung nach Gesetzesverschärfungen und Strafverfolgung kurdischer Abgeordneter. Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat seien weniger wichtig als der Kampf gegen den Terror, erklärte er vergangene Woche: "Diese Worte haben für uns absolut keinen Wert mehr." (Markus Bernath, 20.3.2016)