Das Argument, man sollte die Türkei an die EU binden, weil sie eine zentrale geopolitische Rolle spiele, ist in den Debatten stets untergegangen. Einerseits, weil das den geschichtlich unkundigen EU-Bürgern nicht vermittelbar war, andererseits, weil es von den politischen Eliten selbst nicht verstanden wurde. Die Briten verfochten diese Beitrittsthese, auf dem Kontinent nur wenige wie der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer.

Vor zehn Jahren noch wäre die Einbindung der Türkei "billiger" gewesen. Nicht nur das: Damals hatten die Demokraten in Ankara und Istanbul noch einen Einfluss, der mit dem Machtzuwachs des islamistischen Flügels rund um Tayyip Erdogan gestoppt wurde. Ein islamischer Staat sieht keine Gewaltenteilung vor.

Die durch die Flüchtlingsströme forcierte Krise hat die Rolle der Türkei an der Nahtstelle zum Nahen Osten gestärkt. Sie kann Brüssel ihre Bedingungen diktieren. Und sie kann, was die "Werte Europas" – Menschenrechte, Pressefreiheit, Gewaltenteilung – anlangt, unsere ja so christliche Gesellschaft links liegenlassen.

Liberale Grundwerte auf dem Spiel

Knurren im Magen, aber mehr nicht. Weil wir hier in der "Europäischen Gemeinschaft" den Zuzug von Fremden stoppen möchten, zahlen wir Unsummen von Geld: Milliarden, von denen es hieß, die würden wir bei einem EU-Beitritt der Türkei nicht stemmen können. Jetzt geht’s plötzlich.

Dazu kommt: Aus der verständlichen Angst, immer mehr Flüchtlinge (Muslime) nicht integrieren zu können, setzen wir die liberalen Grundwerte aufs Spiel. Da die Kommission in Brüssel mit der Bewältigung der Krise an die Grenzen ihrer Kapazitäten angelangt ist (wozu noch der drohende Austritt Großbritanniens kommt), ist die Verfolgung von Kritikern des türkischen Staatspräsidenten kein Thema mehr.

Wetten, dass bei einer Umfrage europaweit herauskäme, Menschen- und Medienrechte seien ohnehin nachrangig?

Gewaltenteilung und Medienfreiheit würden auch den Österreichern erst dann fehlen, wenn sie in einem geschwächten Verfassungsgerichtshof ihr Recht nicht mehr fänden. Polen und Ungarn sind bereits auf dem Weg dazu. In Österreich könnte es ab 2018, nach einem Wahlsieg der FPÖ, dazu kommen.

Reisefreiheit oder Diktatur

Deshalb hätten die EU -Regierungschefs die Visa-Abschaffung für die Türkei an eine Vereinbarung knüpfen müssen, die sie an einen jährlichen Report einer europäischen Instanz knüpft. Dann müssten die Türken bei Wahlen selbst entscheiden: Reisefreiheit oder Diktatur.

Jahrelang hat man es der (damals moderaten) Türkei unmöglich gemacht, der EU näher zu kommen, jetzt lässt man sich erpressen.

Österreich hat dabei eine unselige Rolle gespielt. Mit Frankreich, später auch mit Deutschland, wurde der Türkei-Beitritt hintertrieben. Jetzt steht man vor den Scherben dieser Politik. Und riskiert, durch die Stützung eines machtgierigen Regimes in Ankara und die Destabilisierung einer der wenigen demokratischen Grundstrukturen zwischen Europa und Asien einen neuen Gefahrenherd zu schaffen. Was, wenn auch Türken fliehen (müssen)? (Gerfried Sperl, DER STANDARD, 20.3.2016)