Der Deal, den die 28 Staats- und Regierungschefs mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu abgeschlossen haben, kann als Paradeexemplar der neuen gemeinsamen Realpolitik der EU in die Geschichte eingehen – im guten wie im schlechten Sinne.

Gut daran ist, dass die Mitgliedsländer sich nach fast sechs Monaten der Hilflosigkeit und der Spaltung im Umgang mit der irregulären Migration überhaupt zu etwas aufgerafft haben, was einen Ausweg aus ihrer tiefen politischen Krise verspricht. Denn so erfreulich die "Willkommenskultur" zur Aufnahme von Kriegsflüchtlingen seit dem vergangenen Herbst vor allem in Deutschland – und bis vor kurzen auch in Schweden und Österreich – auch war: Die vergangenen Wochen haben aufgezeigt, dass die Union zu zerbröseln droht, wenn es nicht gelingt, in diesem Frühjahr eine zweite große Migrationswelle wie jene von 2015 mit über mehr als einer Million Menschen in geordnete Bahnen zu lenken.

Das Erstarken der rechten – ausländer- und europafeindlichen – Parteien quer durch die Union ist dafür ein sicheres Indiz. Nationale Alleingänge und Koalitionen zum Schutz der eigenen Grenzen, wie durch Österreich und die Balkanländer, waren ein anderes Anzeichen für das Auseinanderdriften – von der Ignoranz der Mehrheit der EU-Staaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen gar nicht zu reden.

Viele sprachen von der Notwendigkeit einer "europäischen Lösung", aber fast jeder verstand darunter etwas anderes. Stattdessen gingen fast alle Versuche schief, die EU-Regeln wieder in Gang zu bringen, Flüchtlinge fair aufzuteilen, das Schlepperwesen und die menschlichen Dramen im Mittelmeer zu beenden. Insofern ist der Pakt mit der Türkei ein Fortschritt. Die Grundlinie stimmt: Illegale Migration soll beendet und durch legale Zuwanderung und Aufnahme von (vor allem syrischen) Flüchtlingen ersetzt werden.

Damit endet das Positive an dem Deal. Denn für das Erreichen des Ziels, dass möglichst keine Flüchtlinge mehr den Weg über das Meer nach Griechenland finden, zahlt die Union einen hohen Preis. Den hohen moralischen Ton, den einzelne EU-Staaten in der Regel anstimmen, um die Grund- und Menschenrechtsverletzungen in der Welt anzuprangern, sollten sie sich in nächster Zeit verbeißen. Es war geradezu peinlich, wie stumm sich die EU-Spitzen gegenüber den neuen besten Freunden in Ankara verhielten, was den üblen Umgang mit Pressefreiheit, mit Opposition und Demokratie betrifft.

In der neuen Realpolitik passt das nicht mehr ins Konzept. Für die EU ist es wichtiger, dass die türkische Regierung das vereinbarte Ziel tatkräftig umsetzt: den Zustrom an Flüchtlingen nach Griechenland möglichst auf null zu bringen. Nur in diesem Punkt sind sich die europäischen Regierungschefs – auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel – in Wahrheit einig: Die "europäische Lösung" besteht darin, Migranten maximal abzuwehren, nach der Balkanroute auch den Weg über die Ägäis abzuriegeln. Das gesamte Abkommen dreht sich nur darum.

Umso schwächer fallen die wenigen Teile aus, bei denen es um aktive Aufnahme von Flüchtlingen geht. Lächerliche 72.000 Syrer sind zur "Umsiedlung" aus der Türkei vorgesehen. Werden es mehr, tritt der Pakt außer Kraft. Deutlicher kann man nicht demonstrieren, dass es hier um Flüchtlingsabwehrpolitik geht – nicht um eine gemeinsame Asylpolitik. (Thomas Mayer, 18.3.2016)