Darf man in einer gewissen Bedrängnis durch eine in Österreich so kurzfristig noch nie da gewesene Asylwerberzahl und in einem unsolidarischen EU-Umfeld eine völker-, menschen- und verfassungswidrige Regelung verkünden? Eine wichtige Frage, die sich die Bundesregierung nach Bekanntwerden von Inhalten beider Obergrenzengutachten stellen muss.

Zwar scheint sich mancher handelnde Politiker weiterhin Hoffnungen auf abgeschwächte Einschätzungen hinzugeben: Die Gutachter wurden überraschend zu "gemeinsamen Schlussfolgerungen" aufgefordert. Doch es wäre höchst verstörend, würde sich an den Schlüssen, dass eine numerische oder prozentuelle Höchstzahl von Asylanträgen rechtswidrig ist, noch etwas ändern. Den menschenrechtlich firmeren Regierungsmitgliedern war das ohnehin vom Anfang an klar.

Also: Heiligte hier der Zweck die Mittel? Dazu muss man den Zweck näher betrachten. Dieser erweist sich als zweigeteilt: Nach innen hin signalisierte der Obergrenzenbeschluss der Bevölkerung Handlungsbereitschaft, was vom Standpunkt der Regierung nicht zuletzt Selbsterhaltungsgründe hatte; bei weiter sich aufheizender Stimmung wäre ein Koalitionsbruch immer wahrscheinlicher geworden.

Sind derlei Überlegungen ein ausreichender Grund, um durchblicken zu lassen, dass "überzählige" Schutzbedürftige in Österreich kein Asylverfahren mehr bekommen werden? Wohl kaum – es sei denn, man betrachtet ein Grundprinzip internationalen Menschenrechts in einer Bewährungssituation als Klotz am Bein. Das wäre eine höchst kleingeistige Sichtweise.

Nach außen hin verkündete der Richtwertbeschluss, dass Österreich als vorrangiger Asylwerber-Aufnahmestaat nicht mehr zur Verfügung steht: nach 95.000 Asylanträgen im vergangenen Jahr nicht unverständlich. Jedoch musste den Beschlussfassern von Anfang an klar sein, dass ihre Festlegung weitere Grenzschließungen auf der Balkanroute und eine humanitäre Notsituation zur Folge haben würde: So wie es auch kam und in Griechenland weiterhin ist.

Das ist der Hauptvorwurf, der der Regierung in Sachen Obergrenze zu machen ist: dass sie mit dem Argument, in Österreich einen "Notstand" wegen vieler Flüchtlingsankünfte verhindern zu wollen, echten Flüchtlingsnotstand an den geschlossenen Balkangrenzen in Kauf genommen hat. Der Obergrenzenbeschluss hätte so niemals fallen dürfen. (Irene Brickner, 18.3.2016)