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Terrorwarnung: Das deutsche Generalkonsulat in Istanbul ebenso wie die Botschaft in Ankara waren Donnerstag geschlossen.

Foto: Reuters / Osman Orsal

Vor den Mukhtars redet Tayyip Erdogan am liebsten. Die gewählten Vorsteher aus den Vierteln der türkischen Städte, Autoritätspersonen, die den Alltag am Laufen halten und – wenn sie gut sind – mit einem Machtwort Familienstreitigkeiten schlichten, lädt er gern in seinen Präsidentenpalast ein. Schließlich hat sich auch Tayyip Erdogan als Stadtviertelpolitiker in Istanbul hochgekämpft. Seine Türkei und die Welt misst er mit dem Mukhtar-Maß, das ihn nie betrügt, weil es nie widerspricht.

Vor den Mukhtars in seinem Palast hat Staatschef Erdogan diese Woche dargelegt, dass alles anders werden muss: die Gesetze, das Parlament, die Definition von Terrorismus. "Diejenigen, die unseren Kampf gegen den Terror unterstützen, sind unsere Freunde. Jene, die sich gegen diesen Kampf stellen, sind unsere Feinde", verkündete Erdogan. Es sind folgenschwere Worte, darin sind sich Kommentatoren und politische Beobachter jeder Couleur in der Türkei am Donnerstag einig. Während sich die Türkei anschickt, in Brüssel den vielleicht wichtigsten Handel mit der EU seit der Annahme der Beitrittskandidatur zu treffen, stehen die Zeichen zu Hause auf Sturm.

PKK-Splittergruppe

Knapp eine Woche liegt der jüngste Terroranschlag im Zentrum Ankaras zurück. Der zweite Autobombenanschlag der "Kurdistan Freiheitsfalken" (TAK), einer angeblich halbautonomen Gruppe der kurdischen Untergrundarmee PKK, wirkt nun wie ein politischer Beschleuniger.

Die HDP, die prokurdische Minderheitenpartei, ist im Abseits. Ihre beiden Vorsitzenden, der charismatische Erdogan-Herausforderer Selahattin Demirtas und seine Kollegin Figen Yüksekdag sowie wenigstens drei weitere Abgeordnete werden wohl ihre Immunität verlieren. Geht es nach Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, sollen über eine Sonderregelung in der Verfassung sogar fast alle Parlamentarier ihre Immunität verlieren: Es lägen zurzeit 506 Aufhebungsanträge vor, sagte Davutoglu laut Nachrichtenagentur Anadolu. Insgesamt hat das türkische Parlament 550 Mandatare.

Der Staatsanwalt will den Kurdenpolitikern den Prozess machen wegen Unterstützung der PKK. Wären jetzt Wahlen, gelänge der HDP nicht mehr der Einzug ins Parlament. Erdogans konservativ-islamische AKP hätte die verfassungsändernde Mehrheit, die der Staatschef so unbedingt will.

Mehr als 250 Menschen sind seit dem Anschlag in Ankara im ganzen Land festgenommen worden. Alles kurdische Terrorverdächtige, heißt es. Die Razzien sind keineswegs zu Ende. Der Terrorismusbegriff müsse erweitert, die Gesetze schnell geändert werden, verlangt der türkische Staatschef. Die verbliebene Oppositionspresse glaubt zu wissen, wohin die Reise geht: "Es ist ein Verbrechen, nicht auf der Seite des Präsidenten zu stehen", kommentiert die Tageszeitung Cumhuriyet am Donnerstag, "Meinungsfreiheit ist beschränkt auf die Meinung des Präsidenten". Als Terroristen würden fortan nicht nur jene gelten, die eine Kalaschnikow in der Hand hielten, sondern auch solche mit einem Kugelschreiber. Redakteure, Buchautoren, Hochschullehrer.

Hochschullehrer im Visier

Drei Dozenten sind diese Woche in Istanbul verhaftet worden, weil sie zu jenen mehr als 1000 Unterzeichnern der Petition "Akademiker für den Frieden" vom vergangenen Jänner gehörten. Ermittlungen laufen gegen die Hälfte dieser Hochschullehrer und Intellektuellen. Auch ein britischer Dozent wurde vorübergehend festgenommen und verhört. Ein Flugblatt zum kurdischen Newroz-Fest war bei ihm gefunden worden.

Das kurdische Frühjahrsfest war in den vergangenen Jahren ein politisches Schlüsselereignis. Der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan ließ dort seine Botschaften für den Friedensprozess mit dem türkischen Staat verlesen. Der Frieden ist dahin. Jetzt werden nur dunkle Gerüchte für den 21. März gestreut. Die PKK plane ein Blutbad zum Frühjahrsfest, heißt es. Die Furcht vor neuen Terroranschlägen hält die Bevölkerung in den Großstädten im Griff.

Das deutsche Außenministerium ordnete vorübergehend die Schließung der Botschaft in Ankara und des Generalkonsulats sowie der deutschen Schule in Istanbul an. Von welcher Seite die Terrorgefahr drohte, gab man in Berlin nicht an. Die Terrormiliz "Islamischer Staat" verübte drei der fünf schweren Anschläge in der Türkei seit dem Sommer vergangenen Jahres. Das österreichische Außenamt warnt deshalb bei Türkeireisen vor einem "erhöhten Sicherheitsrisiko".

Kurz vor dem EU-Türkei-Gipfel betonte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel noch das Prinzip der Pressefreiheit. Dreimal soll die Kanzlerin in den vergangenen Monaten bei Gesprächen mit der türkischen Führung den Fall des Spiegel-Korrespondenten in der Türkei, Hasnain Kazim, angesprochen haben. Merkel hatte keinen Erfolg. Akkreditierung und Aufenthaltsgenehmigung des missliebigen Journalisten wurden nicht verlängert. Er siedelt nun nach Wien um. (Markus Bernath, 17.3.2016)