Eine der großen Wiederentdeckungen der Retrospektive: Gérard Blains "Un enfant dans la foule" (1976).


Foto: Filmmuseum

Wien – Gelbe Socken zu braunen Schuhen, das verrät einen modebewussten Herrn, der sich zu Beginn von Gérard Blains Les amis von einem Schuhputzer alles auf Hochglanz bringen lässt. Für sein Alter ist Paul fast schon zu gediegen gekleidet. Er ist 16 und gibt sich wie ein Geck. Für eine Sekunde könnte man meinen, die alte Dame im Kostüm, die sich von einem Chauffeur die Tür einer Limousine aufhalten lässt, wäre mit ihm verwandt. Doch es ist eine zufällige Kreuzung von Existenzen, denn Paul kommt keineswegs aus besseren Verhältnissen. Seine Mutter sitzt daheim an der Singer-Nähmaschine, während der Junge nur nach Hause kommt, um das Sakko zu wechseln. Gleich darauf sehen wir ihn in einem teuren Restaurant, mit einem feinen Herrn. Das ist die Begleitung, auf die Paul es angelegt hat.

Gérard Blain war als Schauspieler bekannt, bevor er 1971 mit Les amis als Regisseur debütierte. Seine Rollen für Claude Chabrol, in Le Beau Serge und Les Cousins, zählen zu den wirkmächtigsten Figuren der Nouvelle Vague.

Persönlich und stilistisch fühlte Blain sich allerdings immer eher dem großen Außenseiter des französischen Kinos verpflichtet: der Einfluss von Robert Bresson ist nicht nur in Les amis deutlich zu erkennen, sondern auch drei Jahren später in Le Pelican, einem durch Schwarzfilm strukturierten Familiendrama, in dem Blain selbst die Hauptrolle spielte, einen Musiker namens Paul, der sich zu einer Dummheit überreden lässt, die ihm zehn Jahre Gefängnis in Amerika einbringt. Als er zurückkommt, hat seine Frau einen neuen Mann, und sein Sohn Marc, den er zu Beginn stolz aus der Wiege gehoben hat, ist schon fast groß. Blain erzählt diese Geschichte äußerlich fast undramatisch, betont hingegen durch viele filmische Mittel die Vergeblichkeit des väterlichen Wunsches nach Integration in die Familie. Die Zeit ist gegen ihn, jede Nähe zu seinem Sohn ist ein Raub an der Ordnung.

Die zweite Nouvelle Vague

In seinem dritten und nach Meinung vieler besten Film Un enfant dans la foule (1976) erweiterte Blain den Horizont und bezog die historischen Ereignisse des Krieges und der Befreiung mit ein: Im Mittelpunkt steht dieses Mal wieder ein kindlicher Protagonist, der die Jahre der Besatzung in einem Internat verbringt, und für den danach die Freiheit einen besonderen Sinn bekommt, nämlich einen negativen. Er identifiziert sich mit den Vogelfreien, die für ihre Kollaboration gezüchtigt werden.

Dieses Gefühl, nirgends dazuzugehören, war bei Gérard Blain wohl autobiografisch begründet. Es stellt eine Beziehung zu Maurice Pialat her, der seine Karriere mit einem Film namens Nackte Kindheit begann. Das Filmmuseum zeigt die Filme von Gérard Blain in einer Reihe mit jenen von Pialat und von Jean Eustache, zwei weiteren Vertretern einer zweiten Generation der Nouvelle Vague. In dieser Reihe sind Blains Filme die am wenigsten bekannten, sie bekommen nun endlich die Aufmerksamkeit, die sie verdienen: als Zeugnisse aus einer Generation, die von den "dreißig glorreichen Jahren" in der französischen Nachkriegsära immer nur den Blick von außen (oder aus einer rettungslos introspektiven Melancholie) mitbekam. (Bert Rebhandl, 16.3.2016)