TGW Logistics Group GmbH

STANDARD: Was wird das noch junge Logistikjahr 2016 bringen?

Kirchmayr: Der Internethandel wird weiterhin stark wachsen. Es werden weitere Schritte in Richtung Vollautomation gesetzt werden. Ein weiteres Thema wird das vielzitierte "single piece picking" sein.

STANDARD: Was bedeutet "single piece picking"?

Kirchmayr: Ein Beispiel: Orangensaftpackungen werden zumeist in einem Karton geliefert, der zwölf Packungen enthält. Dieser Zwölferkarton ist für einen Industrieroboter leicht zu handhaben. Schwieriger wird's, wenn der Roboter nur eine Ein-Liter-Packung aus diesem Karton herausfischen soll.

STANDARD: Warum ist das logistisch relevant?

Kirchmayr: Weil der Kunde, wenn er im Internet Lebensmittel bestellt, meistens keine Zwölferpackung haben möchte, sondern nur einen Liter Orangensaft. Zu der Bestellung kommen dann noch ein Liter Öl, ein Rasierer, zwei Paar Socken hinzu: Die Kunst liegt nun darin, das alles mit einem Robotergreifer automatisiert und nicht manuell zu bewerkstelligen, also zu kommissionieren. Daran arbeiten alle in unserer Branche. 2016 wird es wieder den einen oder anderen Schritt in diese Richtung geben.

STANDARD: Internethandel, Automatisierung: All das spielt TGW in die Hände.

Kirchmayr: Es ist richtig, dass TGW wirtschaftlich recht erfolgreich unterwegs ist. Nach einem Wachstum von rund 30 Prozent im letzten Jahr erwarten wir ein weiteres zweistelliges Wachstum. Die Halbjahresergebnisse stimmen uns hier doch recht optimistisch, weiterhin einen profitablen Wachstumskurs beizubehalten.

STANDARD: Inwiefern spürt Ihr Unternehmen die weltwirtschaftlichen Turbulenzen?

Kirchmayr: Wir merken das indirekt daran, dass unsere Kunden momentan nicht sehr entscheidungsfreudig sind. Geplante Investitionen werden oftmals auf die lange Bank geschoben. Manche Projekte, an denen wir schon lange gearbeitet haben, werden zum Teil auch gar nicht realisiert. Aber wir haben in der Intralogistik eine Binnenkonjunktur, die sehr vom E-Commerce getrieben wird. Sehr viele Lebensmittelhändler gehen verstärkt in diese Richtung und bringen ihre Pilotprojekte ans Netz. Es gibt die ersten Testmärkte in Europa. Diesen Ruck versuchen wir zu nützen. Dennoch gibt es Unsicherheiten. Wir versuchen jene Dinge zu steuern, auf die wir Einfluss haben, und das bestmöglich. Beispielsweise können wir gegen einen Börsencrash in China und gegen den niedrigen Ölpreis nichts machen. Nachdem wir Anlagenbauer sind, haben wir normalerweise einen vernünftigen Backlog. Sollten alle Stricke reißen, kommt ein Plan B zum Zug. Aber wir sind positiv gestimmt und sehen nach wie vor Wachstumschancen in China, den USA, aber auch in Europa, die noch einige Zeit vom wachsenden Internethandel getrieben werden.

STANDARD: Wie sieht die ideale Intralogistiklösung aus?

Kirchmayr: Die gibt es nicht. Weil die letzte Meile – vom Distributionszentrum zum Endkunden – immer unterschiedlich gelöst werden kann. Dort gibt es keine letztgültig perfekte Lösung. Es gibt unterschiedlichste Gedanken und Konzepte. Der wesentliche Punkt ist, dem Kunden Kleinstmengen auf dem schnellsten Weg zur Verfügung zu stellen. Das hat sich stark verändert. Noch vor 20 Jahren war das Gros ein Palettenlager, wo ein Produkt auf Paletten ausgeliefert wurde, die dann zum industriellen Verbraucher oder in ein Verteillager gebracht wurden. Heute ist der Anteil der Palette sehr überschaubar geworden. Heute wird auf Kartons vereinzelt und in Zukunft automatisch einzeln rausgepickt. Zu Spitzenzeiten wie beispielsweise zu "Double Eleven", dem chinesischen Pendant zum Valentinstag oder zum Black Friday-Sale, dem Tag nach Thanksgiving, wird man immer noch auf Menschen zurückgreifen müssen, das kann man noch nicht sinnvoll automatisieren. Das heißt, das Investment zahlt sich nicht aus. Aber abgesehen davon kann man schon auf automatisierte Systeme zurückgreifen, die von den Kosten und den technischen Standards her immer attraktiver werden.

STANDARD: Was die Automatisierung betrifft, schwingen oft Ängste wie die Abschaffung des Menschen mit. Wie begegnen Sie solchen Bedenken?

Kirchmayr: Das ist so ein Stehsatz, der sich leicht aushebeln lässt. Ja, es ist richtig, es werden Arbeitsplätze wegrationalisiert. Aber es sind solche Arbeitsplätze, die schon heute sehr schwer zu besetzen sind. Es sind niedrigqualifizierte Jobs, um die sich kaum jemand reißt. Parallel dazu kommt es zu einer Umschichtung der Arbeitsplätze. Denn die Automatisierung per se schafft zahlreiche neue Stellen. Aber dafür braucht es die entsprechenden Ausbildungsplätze. Gerade bei Letzterem hinken wir in Österreich weit hinterher.

STANDARD: Wo sehen Sie Defizite?

Kirchmayr: Ich habe den Eindruck, dass das Land auf der Stelle tritt.

STANDARD: Konkret bei der Logistikausbildung?

Kirchmayr: Nein, generell. Die TGW betreibt seit 2004 eine Stiftung, "Future Wings", in die zehn Prozent des Jahresgewinns fließen. Damit wollen wir die Ausbildung Jugendlicher unterstützen. Wir haben eigens eine Schule gegründet, dort ist unser Geld, unser Engagement gebündelt. Wir nehmen das sehr ernst.

STANDARD: Um auf das Fachkräftethema zurückzukommen. Sie suchen aktuell Mitarbeiter ...

Kirchmayr: ... 330 für dieses Geschäftsjahr – und das ist schon zur Hälfte vorbei. Wir sind damit in die Medien gegangen, wir haben Kampagnen gestartet, Plakate etc. Hier sehen wir einen "Standortnachteil": Wir konkurrieren in der Region Linz/Wels/ Steyr mit anderen großen Firmen wie BMW oder Voest und vielen, vielen TGW-ähnlichen Mittelständlern. Die suchen alle mehr oder weniger die gleichen Leute. Kurz: Wir kriegen keine Leute und sehen uns gezwungen, wieder outzusourcen, zum Beispiel nach Deutschland, Spanien oder auch in die USA. Das tut weh – wenn man eigentlich wachsen könnte, was aber nicht gelingt, weil man keine geeigneten Mitarbeiter findet. Dieses Thema ist schon ewig auf dem Tisch, und es passiert nichts. (Markus Böhm, 16.3.2016)