"Ich sehe eher die Gefahr, dass der Unterricht durch vermehrten Einsatz von digitalen Medien zum Edutainment verkommt", sagt Josef Kraus, Präsident des deutschen Lehrerverbands.

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STANDARD: "Laptop und Lederhose" war eine gern zitierte Erfolgsmetapher für die Entwicklung Bayerns, Ihres Heimatbundeslands. Jetzt haben Sie aber die Befürchtung, dass sich zu viele Laptops breitmachen könnten – vor allem in den Schulen. Sie warnen vor der "totalen Zwangsdigitalisierung". Warum?

Kraus: Ich befürchte, dass die jungen Leute das Lesen und Arbeiten mit dem Buch verlernen und dass damit letztendlich auch das sinnentnehmende Lesen leidet. Ich befürchte auch, dass die Handschrift als große kulturelle Errungenschaft und etwas äußerst Individuelles verlorengeht. Wir wissen aus Studien auch, dass sich das handschriftlich Niedergeschriebene viel besser ins Gedächtnis einprägt, als wenn man das in eine Tastatur eingibt. Meine dritte Befürchtung ist, dass sich die Schüler durch den ständigen Umgang mit Internet daran gewöhnen, sich nur noch ganz bestimmte enge Informationen, Häppcheninformationen zu holen, und nicht mehr das mitnehmen, was man bei der Lektüre von größeren Aufsätzen oder Buchkapiteln mitnimmt.

STANDARD: Sie sprechen von "Kollateralschäden" durch "total digitalisierten" Unterricht. Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht?

Kraus: Es ist ein Verlust an zwischenmenschlicher und sozialer Kommunikation. Unterricht ist immer auch ein zwischenmenschlicher, diskursiver Akt und eine Schulung in Gedankenführung. Wenn sich diese Art von Kommunikation auf SMS- oder Whatsapp-Kommunikation verlagert, wird das eine sehr verarmte, rudimentäre Kommunikation.

STANDARD: Digitalisierung ist auch in der Politik ein beliebtes Schlagwort. Familienministerin Sophie Karmasin (ÖVP) will eine "digitale Zeitenwende" in den Schulen und kündigte mit Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) an, dass es ab Herbst 861 auflagenstarke Schulbücher als E-Books geben soll. Beide sehen darin "riesige Vorteile". Warum hängen Sie am alten, papierenen Schulbuch?

Kraus: Ein Buch kann ich im buchstäblichen Sinne be-greifen. Vor allem aber liefern Bücher Information und Wissen ohne Verfallsdatum. Gerade bei der Allgemeinbildung geht es ja um die Vermittlung von Wissen ohne rasche Verfallszeiten. Die Digitalisierung von Wissen findet eher dort ihren Zweck, wo es um rasch veraltendes Wissen geht. Das gilt aber nicht in den allgemeinbildenden Schulen, sondern erst in der beruflichen Bildung oder im Studium.

STANDARD: Als Motto gab die Familienministerin aus: "Raus aus der 'Kreidezeit' in den Klassenzimmern, rein in die digitale Welt". Was halten Sie davon?

Kraus: Das sind dümmliche Sprüche, die im Grunde eine Diskreditierung der Arbeit unserer Schulen bedeuten, weil damit assoziiert werden soll, dass die Schulen um Millionen von Jahren zurück wären. Es hat sehr wohl einen Sinn, wenn ein Lehrer im Unterricht an einer Tafel etwas entwickelt, indem nach dem Prinzip der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden ein diskursiver Prozess abgebildet wird. Ich vermag nicht zu erkennen, wo der große Vorteil etwa von Whiteboards sein soll. Ich sehe eher die Gefahr, dass der Unterricht durch vermehrten Einsatz von digitalen Medien zum Edutainment, zur reinen Unterhaltung verkommt.

STANDARD: Was aber muss Schule den Kindern beibringen, um sie auf die Realität, die ja stark durch digitale Entwicklungen geprägt ist, vorzubereiten? Sie kann sich ja nicht ganz abkoppeln.

Kraus: Die technische Handhabung dieser Geräte ist heute so benutzerfreundlich, dass man den Schülern da gar nicht viel beibringen muss, weil die schon in der Grundschule mit sechs, sieben Jahren enorme motorische und technische Fertigkeiten mitbringen. Was man ihnen beibringen muss, und das ist eine wichtige Aufgabe moderner Medienerziehung, ist der Hinweis auf die Gefahren einer übermäßigen Nutzung des Computers oder des Internets.

STANDARD: Welche meinen Sie?

Kraus: Unter dem Schlagwort "Risk and Fun im Netz" muss man die Schüler darauf aufmerksam machen, was es da an Schmuddelangeboten gibt, wo man in Schuldenfallen tappen oder zu viel Persönliches preisgeben und dann unter Umständen zum Zielobjekt von Kriminellen werden kann. Die Schüler müssen lernen, Such- und Recherchestrategien zu entwickeln und vor allem wichtige von unwichtiger Information, sinnvolle von Schrottinformation zu unterscheiden. Dieses Unterscheidungsvermögen – nämlich Konzentration auf das Wesentliche – lässt sich im Übrigen auch sehr gut mit den klassischen Printmedien schulen. Wer sich in einem Buch oder in einer Bibliothek nicht auskennt, der wird sich auch im Internet nicht auskennen.

STANDARD: Wie halten Sie es an Ihrer Schule eigentlich mit Handys? Laut einer Studie der London School of Economics erhöhten sich die Leistungen der Schüler nach einem Smartphone-Verbot um sechs Prozent, vor allem schwache Schüler aus ärmeren Familien profitierten davon.

Kraus: Wir haben in Bayern ein generelles Verbot der Nutzung von Smartphones in Schulen. Wir hatten in meiner Schule zwar keine Laptopklassen, aber alle Unterrichtsräume mit Internet. Die Lehrer haben das sehr vernünftig genutzt, also die Schüler nicht nur mit ständigen Simulationen und Einspielungen zugeschüttet, sondern da, wo es passend war, wurde es gemacht. Ein Handyverbot ist sinnvoll, weil es die Konzentration auf den Unterricht fördert. Ablenkung durch Smartphones ist gerade für Kinder, die ohnehin einen wackeligen Bildungshintergrund haben, sehr schädlich. Ich gewinne überhaupt mehr und mehr die Überzeugung, dass alles, was in der Pädagogik als modern rüberkommt – Schülerzentrierung, Digitalisierung et cetera – zulasten der schwächsten Schüler geht.

STANDARD: Dürfen die Schülerinnen und Schüler Handys also gar nicht erst in die Schule mitnehmen – oder nur nicht in den Unterricht?

Kraus: Es muss ausgeschaltet sein. Sie dürfen es nur nutzen mit ausdrücklicher Genehmigung der jeweiligen Lehrkraft. Wir haben an meiner Schule jedes Jahr einen Projekttag mit den siebenten Klassen, also den Zwölf-, 13-Jährigen, gemacht. Da hat ein externer Trainer den Schülern demonstriert, wie problemlos er ihre Zugangscodes geknackt hat oder was sie alles im Internet preisgegeben haben, was manchmal sehr peinlich werden kann. Das war dann sehr heilsam.

STANDARD: Sie sind im Sommer 2015 nach 37 Jahren als Lehrer, 20 Jahre davon als Direktor des Gymnasiums in Vilsbiburg, in Pension gegangen. Was waren die größten Veränderungen, die Sie im Laufe dieser Jahrzehnte in der Schule wahrgenommen haben?

Kraus: Was die Schüler betrifft, ist meine größte Sorge, dass Ausdauer und Konzentrationsvermögen immer mehr nachgelassen haben. Wir haben ohne Zweifel sehr gute, tolle, begeisterungsfähige Schüler, aber die mediale Ablenkung wurde immer mehr, sodass sie keine Stressresistenz und kein Durchhaltevermögen mehr haben, was aber Voraussetzung ist, um anspruchsvolle Bildung zu erwerben.

STANDARD: Und die Eltern?

Kraus: Der Anteil der Eltern, die sich entweder überhaupt nicht um Erziehung kümmern oder im anderen Extrem nur noch gluckenhaft über den Kindern sitzen, ihnen alles aus dem Weg räumen, sie überkontrollieren und um jede Kleinigkeit für ihre Kinder kämpfen, ist größer geworden.

STANDARD: Der Spezies der "Helikoptereltern" haben Sie ja ein ganzes Buch gewidmet. Was ist da los?

Kraus: Ich erkläre mir diese Eltern mit dem Trend zur Einkindfamilie. Mit drei Kindern können Sie nicht Helikoptermama sein. Diese Eltern sind, wenn sie Eltern werden, immer älter und wollen ihr Kind immer geplanter, durchgestylter, reflektierter erziehen und nicht mehr unkompliziert mit einer Portion Bauchgefühl, Spontaneität und Intuition. Dafür mache ich aber auch die allgemeine Bildungsdebatte verantwortlich.

STANDARD: Inwiefern denn?

Kraus: Wir lassen uns in Deutschland, aber auch in Österreich ja immer verrückt machen von diesen blödsinnigen OECD-Aussagen "Ihr werdet zurückfallen, ihr habt zu wenige Maturanten, zu niedrige Bachelor- und Masterquoten" und so weiter. Ist alles dummes Zeug. Wir haben in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland zweifelsohne relativ niedrige Studierquoten, aber die besten Wirtschaftsdaten in Europa und die wenigsten arbeitslosen Jugendlichen. Man lässt sich immer wieder von sogenannten Bildungsforschern und den Bildungsingenieuren der OECD und anderen Organisationen sowie einer Inflation an Ratgeberliteratur verunsichern und einreden, das eigene Kind habe keine Zukunftschancen im globalen Haifischbecken, wenn nicht der formal höchste Bildungsabschluss erreicht wird. Deshalb wollen immer mehr Eltern ihr Kind ins Gymnasium oder an die Uni reinboxen, obwohl ein anderer Weg vielleicht viel besser wäre.

STANDARD: Und Ihre Bilanz der letzten vier Jahrzehnte Schulpolitik?

Kraus: Die Ansprüche an das Leistungsniveau wurden systematisch abgebaut. Es gibt eine Erleichterungs- und Gefälligkeitspädagogik und -politik. Dazu wird eine Inflation an Bestnoten betrieben, sodass ich sagen muss, viele unserer Zeugnisse, die wir – ich sag's mal für Deutschland, in Österreich ist es wohl ähnlich – ausstellen, sind ungedeckte Schecks. Sie gaukeln den jungen Leuten vor, dass sie etwas können, aber wenn's darauf ankommt, im Studium oder in der Berufsausbildung, haben sie doch nicht das mitgekriegt, was sie eigentlich bräuchten.
(Lisa Nimmervoll, 15.3.2016)