"Shops Around the Corner" beschreibt den Alltag von Kleinunternehmern in Lower Manhattan: Rohmaterial des 2007 verstorbenen Filmemachers Jörg Kalt, bearbeitet von Nina Kusturica.


Foto: La Banda Film

Graz – Wer wenig Zeit hat, muss den Augenblick als Gelegenheit begreifen. Im Jahr 1998 standen der Filmemacher Jörg Kalt und die Kamerafrau Eva Testor jeden Morgen um neun Uhr an der Kreuzung Mulberry Street und Grand Street in Lower Manhattan. Eigentlich für einen anderen Film nach New York gekommen, drehten sie spontan eine weitere Arbeit: Shops Around the Corner.

NK Projects

Nach 9/11 zweifelte Kalt an seinen Bildern der Stadt, kurz vor seinem Tod 2007 übergab er das Rohmaterial an die befreundete Filmemacherin Nina Kusturica. Nach vielen Jahren hat sie daraus eine der persönlichsten und liebevollsten Arbeiten der Diagonale gefertigt: Shops Around the Corner beobachtet eine Handvoll Geschäftsbesitzer in ihrem Alltag, lässt sich vom Leben hinter der Theke und auf der Straße erzählen und durchstreift diesen Mikrokosmos an der Grenze zwischen Little Italy und Chinatown mit neugierigem Blick. Italiener und Chinesen, Alte und Junge, Barbiere und Verkäuferinnen – sie alle haben Geschichten, die der Film zu einem Kanon amerikanischer Stimmen zusammenführt, ohne je seine Balance zu verlieren.

Zwei Jahre später war auch das österreichische Künstlerkollektiv Gelitin in New York und bewies mit einer seiner Interventionen hohe Sensibilität für den historischen Moment. Sie nahmen im 148. Stockwerk des World Trade Centers eine Fensterscheibe heraus, schoben einen kleinen Balkon hinaus und ließen sich darauf von einem Helikopter filmen. Der "Terror der Kunst" als Vorhut der auch massenmedialen Echtzeitkatastrophe im Jahr danach.

In Angela Christliebs Dokumentarfilm Whatever Happened to Gelitin nimmt die spektakuläre Aktion eine mythische Dimension ein, dient sie doch als Nullpunkt einer Suche nach den seitdem angeblich verschollenen Mitgliedern der Truppe. Wie im Banksy-Film von 2010 ist dies eine Konstruktion, um auf die lustvoll- komischen, aber auch institutionskritischen Arbeiten Gelitins zurückzublicken.

Zukunfts- und Identitätsfrage

Christliebs Film lebt von großartigem Archivmaterial, in denen der Anteil männlicher Nacktheit nicht eben gering ist. Gerade in der Ballung der Arbeiten wird das dionysische Potenzial dieser Kunst besonders deutlich. Der Film bereitet die Werke kulinarisch-poppig auf, indem er sich mit Fürsprechern wie John Waters oder Liam Gillick und dem Galeristen Salvatore Viviano als Guide am anarchischen Geist von Gelitin erfreut.

Vergegenwärtigung von Vergangenem könnte überhaupt eine der Leitlinien dieser Diagonale lauten, von der Reflexion der Waldheim-Jahre bis in einen persönlichen Radius hinein: Sigmund Steiner interessiert sich in Holz Erde Fleisch für heimische Bauern und deren Zukunft. Er begleitet einen Forstwirt, einen Gemüsebauern und einen Schafzüchter bei der Arbeit und rückt dabei, ausgehend von der eigenen Familiengeschichte, das Verhältnis von Vätern und Söhnen ins Zentrum eines bedächtigen, ruhig komponierten Films.

Hoffnung stößt auf Skepsis, Verständnis auf Erwartungen. Beinahe beiläufig stellt Steiner bedeutende Fragen, ohne sie auszusprechen, die Antworten finden sich in Blicken, verhaltenen Gesten, offenen Worten.

Ludwig Wüst

Auf solche Konzentration antwortet Heimatfilm von Ludwig Wüst mit einem faszinierend assoziativen Labyrinth, das wiederholt überraschende Ausblicke freigibt. Das Familienalbum öffnet sich, Briefe an Verstorbene wie Verschwundene werden verfasst. Die Bilder der Geschwister, der Mutter und der weiteren Familie machen nach und nach auch entfernteren, ja erfundenen Figuren Platz, die jedoch ähnliche Fragen bewegen: Die Suche nach der eigenen Identität, das Unbehaustsein und die Neubestimmung führen zwangsläufig auf imaginäre Wege, zur Arbeit mit dem Medium Film. (Dominik Kamalzadeh Michael Pekler, 11.3.2016)