Schreiben im Internet: Die Wiener Facebook-Autorin Stefanie Sargnagel und ...

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... der deutsche Schriftsteller Tilman Rammstedt, von dem es täglich "Morgen mehr" via Roman-Abo im Netz gibt.

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Ein bekannter Literaturkritiker erklärte mir mal, er könne keine literarischen Texte in der Zeitung lesen, es ginge einfach nicht, ich hab vergessen, warum, vielleicht ist sein streng disjunktes Bild auch ein Reflex, sich vor etwas zu schützen, was außerhalb von Buchdeckeln stattfindet, weil es zu viel unredigierte Uferlosigkeit und zu wenig Ordnung erlaubt. Ich muss ihn gar nicht erst fragen, wie er zu Literatur im Netz steht, sie existiert für ihn schlicht nicht. Ich bin in dieser Hinsicht weniger streng, weil ich einerseits generell ein langsamer Seltenleser bin, und andererseits gewissermaßen aus dem Internet komme, dort sozialisiert worden bin.

1999 gründete ich ein Internetforum, ich nannte es Höfliche Paparazzi, es sollte ein Art Schreibraum sein, in dem es keine Regeln gibt, nicht mal die titelgebende Höflichkeit wäre eine Regel, die einzige Regel sollte die der vorsätzlichen Themenverfehlung, des forcierten Abschweifens und des Verbots kleiner, gelber, Ironie anzeigender Grinsegesichter sein. Meine Idee war, dass in so einem Raum das Erzählen einfacher wäre als in einem strengen Forum mit einem unumstößlichen Regelwerk, das alles ahndet, was von einer willkürlichen Direktive abweicht, um früher oder später in Haarspaltereien zu enden. Ich kannte ein paar Literaturblogs, die sterbenslangweilig steril waren, und eine Halbwertszeit von maximal drei Jahren hatten. Unser Forum existierte 15 Jahre. Und warum? Vielleicht läuft es auf das Smiley-Verbot hinaus.

Ich muss es so pathetisch sagen, ich lernte dort schreiben, der Schwarm brachte es mir bei, eine bestimmte befruchtende Stimmung, ein einzelner Lehrer hätte das nicht vermocht, man hätte bei ihm Techniken lernen können, literaturhistorische Parameter, und am Ende eine Bewertung für das, was man unter ihm produziert hat, aber nicht das Gefühl, das ein undidaktischer Schwarm einem gibt, die Ahnung dessen, in welche Richtung es geht. Natürlich sind diese Schwärme auch brandbeschleunigend für all den Hass im Netz, aber das sind die Sozialgeräusche derjenigen, die sich nicht artikulieren können, eine Art Endorphin der Destruktion. Sie wollen ja nichts produzieren, sondern nur ihre Ohnmacht kompensieren.

Wir hätten das, was wir dort geschrieben haben, auch nicht als Literatur bezeichnet, es waren einfach irgendwelche Texte, die nicht unbedingt zwischen Buchdeckel wollten. Das Grundbrummen im Forum war in Spitzenzeiten zu einem süchtig machenden Lebensmittel geworden, das für Außenstehende schwer vermittelbar gewesen wäre, weil es eben eine Dimension mehr lieferte, über den Text hinaus. Jemand nannte uns mal "die scheißelitäre Lounge der Erleuchteten", und er hatte damit nicht so unrecht.

Eines der produktivsten Foren

Viele der dort Schreibenden haben in der Folge aber begonnen, "rauszugehen", um Bücher zu schreiben, Romane, Sachbücher, Drehbücher, Tatorte, Stücke, sogar Kochbücher, bei vorsichtiger Schätzung etwa 80 Bücher, eine kleine Bibliothek, vielleicht eines der produktivsten Foren des Internets, trotzdem bin ich nicht so vermessen zu behaupten, dass all das ohne das Forum nicht entstanden wäre, aber zumindest hat der Schwarm ein bisschen abgefärbt, wie man kommuniziert, wie man formuliert, wie man pointiert. Es hat ein Bewusstsein erzeugt für das, was man sonst allein in der Stube für eine Schublade produziert hätte, also sich möglicherweise nicht getraut hätte, es anderen zu zeigen.

Einige begannen nebenher ihre Blogs zu bauen und diese zu befüllen, was mir fremd war, weil ich das redigierende, regulierende und relativierende Element der Gruppe brauchte, andere vertrauten aber auf ihr eigenes Gefühl, auch weil sie Kommentarfunktionen zuließen, also entstand weiter ein Austausch mit außen, nur dass diesmal eine Hierarchie entstand, einer oben und ein Kommentarschwarm unten.

Man kann vielleicht diagnostizieren, dass Literatur im Netz nur dazu da ist, um am Ende dann doch gedruckt zu werden, so als sei das die Belohnung dessen, was man zunächst nur ausprobiert hat, so eine Art Visitenkarte oder Bewerbungsschreiben. Als Rainald Goetz 1998 sein Blog Abfall für alle einrichtete, terminiert auf ein Jahr, kam das von jemandem, der nichts mehr ausprobieren musste, er hatte seine Sprache bereits gefunden, für ihn war sein Blog nur ein Werkzeug der Disziplin, jeden Tag zu dokumentieren, konsequenterweise ließ er Kommentare erst gar nicht zu, was hätte er mit unseren Sozialgeräuschen denn anfangen können, wenn in seinem Kosmos schon genug Stimmen sprechen, und auf den untersten Kommentar von allen konnte er sicher auch gut und gerne verzichten, das kleine gelbe Gesicht. Auch dieses mächtige Protokoll eines Jahres erschien als Buch, und da erwies sich, dass es ein anderes Lesen ist, man liest Papier anders als Flüssigkristalle, weil Papier irreversibel ist, und das, was im Netz steht, noch diesen vorläufigen, flüchtigen Charakter hat, es könnte jederzeit gelöscht oder geändert werden, also ist die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, geringer.

Die aktuell vergnüglichste deutschsprachige Netzliteratur kommt von der bereits von allen Seiten akklamierten Stefanie Sargnagel. Sie setzt dort an, wo Rainald Goetz aufgehört hat, nur mit anderen Mitteln. Sie wird immer mit Charlotte Roche verglichen, aber die Nähe zu Goetz ist augenscheinlicher, weniger gefallsüchtig als Roche, uferlos, frei flottierend und impulsiv wie Goetz, nur veröffentlicht sie nicht in einem hermetischen Blogbereich, sondern, noch schlimmer, bei Facebook, also mit Kommentarfunktion, und erntet naturgemäß viele gelbe Gesichter und die notorischen Blitzliker, aber das scheint ihr egal zu sein, sie liest die Kommentare offenbar gar nicht, sie sind der Treibstoff für ihren Algorithmus, um ein großes Publikum zu generieren. Aus diesen Statusmeldungen, die sie mitunter im Stundentakt rausfeuert, sind zwei Bücher entstanden, auch hier liest sich das auf Papier anders, man liest es paradoxerweise flüssiger, als wenn im Netz unregelmäßig einzelne Stücke angeschwemmt werden.

"Ich hatte nie den Antrieb Vegetarierin zu werden wie viele meiner Freunde. Ich esse an sich wenig Fleisch, weil mir Beilagen immer am besten geschmeckt haben. Knödel, Nudeln, Pommes, knusprige Bratkartoffeln, gebackener Emmentaler. Ich bin natürlich schon gegen Massentierhaltung. Aber ich hab ganz generell nicht so viel Empathie gegenüber Tieren wie andere. Dafür hab ich es ganz stark gegenüber Menschen. Ich würde zb. niemals einen Flüchtling essen." Der Literaturkritiker vom Anfang dieses Textes, sargnagelaffin, aber facebookphob, meinte, er könne es sich nicht recht vorstellen, dass, wenn man den digitalen Inhalt geschenkt bekommt, diesen dann auch noch auf Papier will, das wäre in etwa so wie das Buch zu lesen, nachdem man den Film gesehen hat.

Ein anderes Beispiel für spannende Literatur im Netz liefert derzeit ein Experiment von Tilman Rammstedt, er hat ein Roman-Abo eingerichtet, er schreibt über drei Monate jeden Tag an einem neuen Buch, und man kann dabei zuschauen, wenn man eine geringe Abogebühr zahlt, Jo Lendle, sein Lektor, schreibt dazu: "Morgens kommt man in den Verlag, da wartet, von einem knappen Verzweiflungsseufzer begleitet, im Posteingang das noch schreibwarme Ergebnis der vergangenen Nacht." Das Experiment heißt Morgen mehr, am 8. April 2016 muss das Werk fertig sein, um schon bald, "noch leicht außer Atem, in den Buchhandlungen zu stehen und so zu tun, als sei nie etwas gewesen". Das hat etwas von der Serie Kobra, übernehmen Sie, in der es am Anfang von einem Tonband immer hieß: "Sollten Sie oder jemand aus Ihrer Spezialeinheit gefangen genommen oder getötet werden, wird der Minister jegliche Kenntnis dieser Operation abstreiten. Dieses Band wird sich in fünf Sekunden selbst vernichten." Immerhin kommt bei Netzliteratur niemand zu Schaden. Außer es sind gelbe Grinsegesichter involviert. (Tex Rubinowitz, Album, 20.3.2016)