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Um diese Entscheidung war Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), wahrlich nicht zu beneiden. Hin- und hergerissen zwischen den Rufen der Finanzmärkte nach noch mehr billigem Geld und kritischen Kommentaren von Volkswirten ob der Wirkungslosigkeit der bisherigen Maßnahmen mussten er und die anderen Mitglieder des geldpolitischen Rats eine wegweisende Entscheidung treffen. Nun sind die Würfel gefallen: Draghi setzt alles auf eine Karte und versucht mit einer monströsen Flut an Geld einen Befreiungsschlag – von dessen Gelingen die wirtschaftliche Zukunft der Eurozone zu großen Teilen abhängt.

Um des Hauptproblems, nämlich immer niedrigerer Inflationsraten, Herr zu werden, drückt der EZB-Chef die Zinsen noch tiefer, teilweise auch unter null. Damit entsteht eine Situation, die genauso skurril ist, wie sie klingt: Zur Verbesserung der wirtschaftlichen Gesamtwetterlage in Europa setzt Draghi just auf jene Maßnahmen, welche die Probleme herbeigeführt haben – nämlich eine zu laxe Geldpolitik, wie sie auf globaler Ebene seit Jahrzehnten praktiziert wird.

Beginnend mit den Krisen in Asien und Russland in den späten 1990er-Jahren hat zunächst die US-Notenbank Fed seither jegliche Anzeichen wirtschaftlicher Probleme in einer Flut an billigem Geld erstickt. Dadurch konnten drohende Rezessionen zwar kurz- und mittelfristig eingedämmt oder gar vermieden werden, jedoch vergrößerte dies die Probleme auf lange Sicht.

Einerseits scheiden bei niedrigen Zinsen marode Unternehmen in geringerem Maße aus dem Markt aus – ein Prozess, der als kreative Zerstörung bezeichnet wird, weil er zur Gesundung von Volkswirtschaften wesentlich beiträgt. Auf der anderen Seite werden durch zu günstige Kredite Projekte, die bei einem angemessenen Zinsniveau nicht realisiert worden wären, scheinbar rentabel und daher umgesetzt.

Der ganze Mix kann zur Bildung von Blasen auf diversen Märkten führen. Plakativstes Beispiel war der extrem aufgeblähte US-Immobiliensektor der 2000er-Jahre, der überhaupt erst zur Finanzkrise und der Lehman-Pleite geführt hat. Aber auch der jüngste Preiskollaps von Erdöl fällt in diese Kategorie. Dank Nullzinspolitik der Fed schossen in den USA die großteils fremdfinanzierten Fracking-Türme, mit denen Schieferöl gefördert wird, wie Pilze aus dem Boden. Freilich ist der Katzenjammer nun groß, denn dadurch wurde mehr Öl gefördert, als die Welt braucht, und der Preis stürzte ins Bodenlose.

Dieses Beispiel veranschaulicht jenes Problem, unter dem nun die Weltwirtschaft offensichtlich leidet: zu hohe Produktionskapazitäten, die wegen zu tiefer Zinsen entstanden sind. Weil die Nachfrage nicht mithalten kann, sinken in vielen Regionen die Preise für Güter und Dienstleistungen – die gefürchtete Negativspirale einer Deflation beginnt sich zu drehen. Ein Bild, das diese Entwicklung gut beschreibt, ist jenes eines Schneepflugs mit nicht schräggestellter Schaufel. Dieser schiebt so lange Schneemassen vor sich her, bis er nicht mehr vorankommt. Nun schickt sich Draghi an, den Pflug mit Volldampf doch noch voranzutreiben.

Vielleicht gelingt das Vorhaben sogar. Denn die EZB betritt mit ihrem Maßnahmenbündel, das in dieser Kombination nie zuvor erprobt wurde, völliges Neuland. Wahrscheinlich erscheint dies nach den bisherigen Erfahrungen allerdings nicht. (Alexander Hahn, 10.3.2016)