Im Barrio Santa Cruz.

Foto: Marie Bonnin

Fotomontage: über den Dächern von Sevilla.

Foto: Marie Bonnin

Collage: Cerveza Cruzcampo.

Foto: Marie Bonnin

Was schnell auffiel: Das Geschichtsstudium an der Universität von Sevilla unterschied sich stark von, dem was ich bis dahin an der Universität Wien kennengelernt hatte. Von September 2010 bis Juni 2011 dauerte mein Erasmus-Aufenthalt in Spanien, und sowohl die wissenschaftlichen Inhalte als auch die Art der Vermittlung waren mir neu: Während in Wien eher postmoderne Zugänge im Vordergrund standen, war in Sevilla Geschichte noch immer hauptsächlich etwas mit ziemlich vielen Jahreszahlen. Hier wurden in einem Seminar über "Internationale Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert" noch Gefechtsformationen analysiert und auswendig gelernt.

Ich und meine Kollegen aus dem deutschsprachigen Raum machten uns häufig über diese vermeintliche Rückständigkeit lustig. Auch in Anbetracht der teilweise eigenartigen Praxis wissenschaftlichen Arbeitens mancher unserer spanischen Studienkollegen. Es kam zum Beispiel vor, dass in Seminararbeiten Vorlesungen zitiert wurden: "Siehe Prof. XY am 15.1. im Raum ..." Aber es war doch auch erstaunlich, wie viel Wissen die spanischen Studenten anhäuften. Bei manchen Gesprächen, die sie nach den Kursen untereinander führten, konnte man nur staunend danebenstehen und schweigen. Da half uns die ganze Diskursanalyse nichts. Im sogenannten Faktenwissen waren sie uns haushoch überlegen.

Eigenwilliger Frontalunterricht

Was die Lehre betraf, so fiel zunächst die enge Beziehung zwischen Studenten und Lehrenden auf, die meist, aber nicht immer von einer Art wohlwollendem Paternalismus geprägt war. In den Kursen wurde wenig diskutiert, der Unterricht war deutlich frontaler als bei uns. Ich interpretierte das damals als Passivität, vielleicht sogar als Hörigkeit gegenüber den Vortragenden. Viel später bot mir ein Spanier in Wien eine andere – oder zusätzliche – Erklärung an: Wenn man etwas nicht ganz sicher wisse, halte man an spanischen Universitäten den Mund. Das war auch ein Zugang, wie ich zugeben musste.

Relativ frontaler Unterricht hieß dann auch nicht, dass man sich zwangsläufig langweilte. Im zweiten Semester besuchte ich zum Beispiel einen Kurs über Lateinamerika im 20. Jahrhundert. Er wurde von einem glühenden Marxisten gehalten, der uns ziemlich von oben herab behandelte. Ich glaube, er hielt uns wohl zum Großteil für ausgemachte Trottel, worunter vor allem die US-amerikanischen Austauschstudenten zu leiden hatten, mit denen er redete, als ob sie nicht bis zehn zählen könnten. Aber das Bild, das er vier Stunden die Woche in freier Rede ohne jede Gedächtnisstütze von der südlichen Hälfte des amerikanischen Kontinents zeichnete, war derart eindrücklich, facettenreich und kohärent, dass auch niemand den Wunsch verspürte, mit ihm eine Diskussion anzufangen. In einem standardisierten Evaluierungsverfahren anglo-amerikanischen Vorbilds wäre dieser Kurs wohl durchgefallen. Trotzdem war ich begeistert.

Globalisierter Geschmack

Noch interessanter als die Unterschiede im universitären System waren für mich die vielen Gemeinsamkeiten innerhalb der Gruppe der Erasmusstudenten. In den ersten warmen sevillanischen Herbstnächten bemerkten wir, dass wir ein ziemlich uniformer Haufen waren. Mit T-Shirts von H&M, Betten von Ikea – in Sevilla und zu Hause – und ziemlich ähnlichen Konzeptionen von Coolness, die uns Werbung, Videoclips und Filme eingetrichtert hatten. Alte Rennräder waren nicht nur in Wien und Mailand hip, sondern auch in den verschlafenen Dörfern der Normandie.

Irgendwie links, aber bei weitem nicht subversiv

Bemerkenswert war auch, wie unpolitisch wir waren. Natürlich waren die Erasmusstudenten tendenziell eher links. Was das allerdings bedeutete, war nicht restlos geklärt. Man konnte sich als links deklarieren und gleichzeitig Überlegungen für ein Start-up anstellen, das in zwei Jahren genug Geld einbrächte für vier Jahre Hängematte in Kolumbien. In einem Moment, in dem das Land, in dem wir uns befanden, auf dem Weg nach ganz unten war, fungierten wir nicht gerade als subversive Elemente.

Sicher lag da irgendwo ein Exemplar von "Indignez-vous" von Stéphane Hessel herum. Und die Bewegung des 15. Mai genoss unsere unumschränkten Sympathien. Aber die Beschäftigung mit diesen Anliegen hatte einen sehr abstrakten Charakter. Größtenteils aus dem reicheren Norden kommend – mit Oberitalien als südlicher Grenze –, hatten wir irgendwie das trügerische Gefühl, dass uns das Ganze nicht so wirklich betreffe. Oder nur auf einer sehr individuellen Ebene: als Angst vor dem persönlichen Scheitern im Kontext einer sich krisenhaft entwickelnden Weltwirtschaft.

Brüderlich nur im Privaten

Der türkische Dichter Nâzım Hikmet schrieb einmal, unsere Sehnsucht sei "Leben einzeln und frei/ wie ein Baum und dabei/ brüderlich wie ein Wald". Brüderlich wie ein Wald – das galt für uns nur im Privaten; in den Nächten auf der Plaza Alameda, wo das Bier so billig war, dass man fast Lust hatte zu lachen, wenn man am Tresen nach den passenden Münzen suchte. Für das nicht abstrakte, sondern konkrete politische Denken und Handeln galt es jedoch nicht. Und das ist heute noch immer so. (Roman Kaiser-Mühlecker, 12.3.2016)