Angela Merkel mag es als Durchbruch bezeichnen, andere Beobachter sehen das Nichtergebnis des EU-Sondergipfels mit der Türkei viel skeptischer. Aber selbst wenn es in den nächsten Wochen zu einem Flüchtlingsabkommen kommt, hat die EU in dieser Nacht ein tristes Bild abgegeben: innerlich zerstritten und den Begehren der Türkei hilflos ausgesetzt. Die deutsche Kanzlerin schiebt dafür gerne ihren EU-Partner, auch Österreich, die Schuld zu. Aber in Wirklichkeit tragen sie und ihre verunglückte Diplomatie selbst die Hauptverantwortung.

Als Merkel im vergangenen Sommer gegen die Abschottungspolitik von Ungarns Premier Viktor Orbán ihre Politik der offenen Grenzen verkündete, erhielt sie weltweit Bewunderung und Applaus. Aber Merkels Versprechen hing davon ab, dass ein anderer Weg gefunden wird, den Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer zu bremsen. In Berlin, Wien und Brüssel sprach man zwar stets von einer "europäischen Lösung"; gefordert aber war vor allem Deutschland, das als größtes und reichstes EU-Land allein über die Anreize und Druckmittel verfügt, um die Türkei, Griechenland und die anderen Staaten zu einer umfassenden Kooperation zu bewegen.

Dass es nicht gelang, die Osteuropäer für eine faire Verteilung von Asylwerbern zu gewinnen, war weder überraschend noch allzu schlimm; auch eine rein westeuropäische Lösung wäre möglich gewesen. Doch zur Jahreswende sprang die Linksregierung in Schweden ab, die ihre Grenzen dichtmachte. Dann ließ Frankreich, der zweitwichtigste EU-Staat, Merkel im Regen stehen. Und schließlich verlor die Kanzlerin auch ihren treuesten Gefährten, Werner Faymann. Sie hatte ihm nichts zu bieten, was der SPÖ-Chef der immer lauter werdenden Kritik seines Koalitionspartners und aus der Bevölkerung entgegenhalten konnte. Seine Wende zum Kritiker war für Merkel wohl der schwerste Schlag. Aber anders als sie verfügt Faymann heute über zahlreiche Verbündete in Europa.

Inzwischen steht keiner der 27 EU-Partner noch auf Merkels Seite; bloß die machtlose EU-Kommission gibt ihr moralische Rückendeckung. Berlin betreibt daher selbst einen nationalen Alleingang, der keine Grundlage mehr für eine "europäische Lösung" sein kann. Und es lässt dabei zu, dass Orbán Europas Kurs diktiert. Für Merkels moralisch und völkerrechtlich integren Weg wurden die realpolitischen Voraussetzungen nicht geschaffen.

Im vergangenen Herbst wäre es noch viel leichter gewesen, der Türkei eine Einigung zu einem vertretbaren Preis abzutrotzen. Warum der Berliner diplomatische Apparat, geführt vom erfahrenen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, seine politische und finanzielle Stärke damals nicht ausgespielt hat, ist unklar. Offenbar waren viele deutsche Regierungsmitglieder und Beamte von Merkels Politik nicht ganz überzeugt. Deutschland fühlt sich grundsätzlich in seiner Rolle als Europas Führungsmacht, die ihm zunehmend abverlangt wird, unwohl und versteckt sich lieber hinter einer schwerfälligen EU-Diplomatie.

Trotzig wehrt sich Merkel in ihren öffentlichen Auftritten gegen das Scheitern, erreicht symbolische Erfolge wie jenen, dass im Gipfeldokument die Balkanroute nicht als geschlossen bezeichnet wurde. Aber das ändert nichts daran, dass die deutsche Außenpolitik bei ihrer größten Herausforderung seit der Wiedervereinigung an fast allen Fronten versagt hat. (Eric Frey, 8.3.2016)