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Viele, die an den Aufräumarbeiten unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl teilgenommen haben, starben wenige Monate oder Jahre später an Krebs. Welche Langzeitwirkung niedrige Strahlendosen haben, ist unter Experten umstritten.

Foto: REUTERS/Igor Kostin

Wien – Es ist noch immer da. Als am 26. April 1986 das sowjetische Kernkraftwerk Tschernobyl havarierte, gelangten bekanntlich große Mengen radioaktives Jod-131, Strontium-90 und Cäsium-137 in die Atmosphäre. Je nach Windrichtung waberten die Wolken mal nach Osten, mal nach Westen und schickten mit dem Regen ihre gefährliche Fracht zu Boden. In Mitteleuropa wurde Österreich am stärksten getroffen. Allein an Cäsium-137 gingen hier regional mehr als 40.000 Becquerel pro Quadratmeter nieder. Jetzt, fast 30 Jahre später, ist erst die Hälfte dieses strahlenden Materials zerfallen und somit unschädlich. Der Rest vagabundiert weiter in den Ökosystemen herum, reichert sich in Pilzen und Wildtieren an.

Doch wie gefährlich sind die von der Reaktorkatastrophe verbreiteten radioaktiven Stoffe, von Fachleuten Radionuklide genannt, tatsächlich? Strahlenbelastung ist ein potenzielles Gesundheitsrisiko. Je mehr man ihr ausgesetzt ist, desto höher die Gefahr. 4000 Millisievert können einen Menschen in kurzer Zeit töten.

Solchen Mengen waren 28 Mann Reaktorpersonal direkt vor Ort ausgesetzt. Sie starben innerhalb weniger Monate. Welche Langzeitwirkung niedrige Dosen allerdings haben, ist unter Experten umstritten. Dementsprechend laufen auch die geschätzten Opferzahlen des Tschernobyl-Desasters weit auseinander. Weißrussische Wissenschafter etwa gehen von circa 93.000 zusätzlichen Krebstoten aus, bis zum Jahr 2065. Eine erschreckend hohe Zahl.

Berüchtigtes Jod-131

Radioaktivität ist auch ein natürliches Phänomen. Jeder von uns bekommt jährlich rund fünf Millisievert ab, aus der Erdkruste, der Atmosphäre und dem Wasser. Die zusätzliche Belastung infolge der Meilerhavarie liegt fast überall in Europa unter fünf Millisievert, und das über Jahre zusammengerechnet. "Klar, Strahlung verursacht Krebs", sagt der Nuklearmediziner Robert Gale vom Imperial College in London. "Aber wir wissen nicht, ob derart niedrige Dosen tatsächlich zu einem nachweisbaren Anstieg führen."

Strahlung ist jedoch nicht gleich Strahlung. Sie kann von außen kommen, wie bei einer Röntgenaufnahme, oder sich im Körper einnisten, wenn der Organismus radioaktive Partikel aufnimmt. Vor allem Jod-131 ist diesbezüglich berüchtigt. Es setzt sich in der Schilddrüse fest und schädigt dort die Zellen. Die von den Nukliden ausgehende Strahlung setzt Teilen der DNA zu, wodurch die Steuerung der Zellaktivität gestört wird. Wucherungen entstehen. "Im Umfeld von Tschernobyl gab es seit dem Unfall mehr als 7000 Fälle von Schilddrüsenkrebs", berichtet Gale. Die normalerweise äußerst seltene Krankheit traf ausschließlich Kinder und diejenigen, die in ihrer Kindheit mit dem radioaktiven Fallout in Kontakt gekommen waren.

Überträger war in erster Linie die Milch. Kühe hatten mit Jod-131 kontaminiertes Gras gefressen und die Radionuklide über ihre Euter abgegeben. Die Kinder tranken es. Abgesehen davon ist die Region im Norden der Ukraine und den angrenzenden Ländern Jodmangelgebiet, wie Robert Gale erklärt. Die Schilddrüse benötigt das Element für die Hormonproduktion. Bei einer Unterversorgung nimmt das Organ jedes Jod geradezu begierig auf, auch die radioaktive Variante. Diese Gefahr lässt sich durch die Einnahme von Jodtabletten bannen, aber die wurden im Fall Tschernobyl nicht rechtzeitig flächendeckend verteilt. Ungünstiger konnten die Umstände kaum sein, meint Gale.

Zum Glück ist Schilddrüsenkrebs gut behandelbar. Man kann den Tumor chirurgisch entfernen und zusätzlich hochdosiertes Jod-131 verabreichen, erklärt Gales Kollegin Elisabeth Cardis vom Forschungsinstitut CREAL in Barcelona. Denn auch die wuchernden Schilddrüsenzellen absorbieren das radioaktive Jod – und zwar in noch größeren Mengen als vorher. Anschließend werden sie durch die starke Strahlung zerstört. Sogar ihre Metastasen lassen sich so wirkungsvoll bekämpfen, betont Cardis. "Vor Tschernobyl war das gar nicht bekannt." Von den über 7000 Patienten starben bisher weniger als zwei Dutzend.

Schwierige Faktensuche

Wie viele Opfer andere Krebserkrankungen infolge der Reaktorkatastrophe forderten, steht auf einem anderen Blatt. Ein relativ kurzfristiger Anstieg wäre am ehesten bei Leukämie zu erwarten gewesen, meint Robert Gale, aber ein solcher ließ bis dato nicht eindeutig nachweisen. "Die anderen Krebstypen werden sich wahrscheinlich erst nach 30, 40 Jahren bemerkbar machen." Allerdings wird es auch dann kaum möglich sein, einen direkten Bezug zwischen diesen Erkrankungen und der Havarie aufzuzeigen. Elisabeth Cardis schätzt aber, dass es bis 2065 rund 25.000 solcher Dunkelfälle in Europa geben wird.

Beispiel Strontium-90: Das strahlende Metall hat eine Halbwertszeit von 28 Jahren (Jod-131 ist bereits nach acht Tagen zu 50 Prozent zerfallen) und reichert sich gerne in den Knochen an. Das kann Tumorbildungen auslösen. Ob jedoch die Entstehung von Knochenkrebs bei einem Einwohner von Kiew der erhöhten Aufnahme von Strontium-90 oder anderen gesundheitsbelastenden Faktoren zuzusprechen ist, lässt sich nicht mehr ermitteln.

Dieselben Schwierigkeiten sieht Gale im Fall Fukushima. Dort sei die Strahlenbelastung zudem wesentlich niedriger als im Großraum Tschernobyl, weil das allermeiste freigesetzte radioaktive Material im Ozean landete und dort verdünnt wurde. Strahlungsschäden erwartet man am ehesten bei den Katastrophen-Einsatzkräften des japanischen Reaktors.

Die meisten von ihnen bekamen allerdings nur an die 50 Millisievert ab, sagt Gale. Der Mediziner ist ihnen persönlich begegnet und sah, wie sich der Stress auf ihre Gewohnheiten auswirkte. "Diese Menschen rauchen ein bis zwei Päckchen Zigaretten täglich." Allein das erhöhe ihr Krebsrisiko um das Zwanzigfache. "Wie sollen wir da einen Strahlungseffekt aufspüren?" Das größte Gesundheitsproblem infolge des Fukushima-Desasters ist wohl die psychische Belastung, meint auch Elisabeth Cardis. Die Angst überschattet das Leben vieler Betroffener – auch derjenigen, die nicht aus der Sperrzone evakuiert wurden. (Kurt de Swaaf, 13.3.2016)