"Es wäre fatal, wenn wir wieder verschiedene Klassen von Menschen schaffen, die Zugriff auf Sozialleistungen haben", sagt die Historikerin Sylvia Hahn.

Foto: Uni Salzburg

DER STANDARD: Sie haben sich als Historikerin immer wieder mit der Geschichte von Armut und Arbeit beschäftigt. Wie wurde Armut im Laufe der Geschichte gesellschaftlich gesehen?

Sylvia Hahn: Die gesellschaftspolitische Sicht auf die Armut hat sich natürlich im Laufe der Jahrhunderte verändert, aber sehr lange gehalten hat sich – und das finde ich total interessant – eine Teilung in würdige und unwürdige Arme. Dieses Muster zieht sich fast wie ein roter Faden durch die Geschichte, es ändern sich nur die "Mascherln". Denn genau das wiederholt sich in den letzten Jahrzehnten unter anderen Bezeichnungen plötzlich wieder.

DER STANDARD: Um welche Gruppen geht es da zum Beispiel?

Hahn: Denken Sie beispielsweise an die Diskussion in den 1980er- und 1990er-Jahren, wo alleinerziehenden Frauen unterstellt wurde, dass sie Sozialschmarotzer sind, und wo mit den sogenannten Zahnbürstenkontrollen überprüft wurde, ob sie nicht doch in Partnerschaft leben. Und heute reden wir wieder darüber: Wer ist würdig, Mindestsicherung zu beziehen oder Familienbeihilfe zu beziehen?

DER STANDARD: Migration ist ein weiteres Ihrer Themen, auch im historischen Rückblick. Wie hängen Migration und Armut zusammen?

Hahn: Zunächst muss man mit einem Vorurteil aufräumen: Es waren und sind nicht die Ärmsten der Armen, die migrieren, denn für Migration – egal, ob man freiwillig auswandert oder flüchten muss –braucht man ein Startkapital. Das zeigte sich im Laufe der Geschichte immer wieder, beispielsweise auch im Nationalsozialismus: Wer einer vom Nazi-Regime verfolgten Bevölkerungsgruppe angehörte und arm oder alt war, konnte nicht flüchten und war dem brutalen System ausgeliefert, wurde eingekerkert oder im KZ ermordet.

DER STANDARD: In den Ankunftsgesellschaften sind Migranten dann aber verstärkt armutsgefährdet.

Hahn: Dies ist tatsächlich sehr oft der Fall. Einerseits ist es für Migranten zunächst schwer am Erwerbsleben zu partizipieren und andererseits ist dies meist mit einem Dequalifizierungsprozess verbunden. Viele Migrationswege – ob jetzt freiwillig oder unfreiwillig – sind daher kurzfristig von einem sozialen Abstieg begleitet, bis man dann Fuß gefasst hat und wieder sozial aufsteigen kann. Das gilt und galt für alle Schichten, beispielsweise auch für viele gut ausgebildete oder Intellektuelle, die im Laufe des 20. Jahrhunderts flüchten oder emigrieren mussten.

DER STANDARD: Zeigt sich das auch in der aktuellen Zuwanderung nach Österreich beziehungsweise Europa?

Hahn: Ja, ich sehe das auch in der Flüchtlingsunterkunft in Frankenberg, wo ich involviert bin: Die jungen Männer sind alle aus sehr gut situierten Familien, haben studiert, mussten dann alles liegen und stehen lassen, um dem Militärdienst und Krieg zu entkommen. Jetzt sind sie darauf angewiesen, dass sie Kleidung, Essen, Bücher etc. geschenkt bekommen – das heißt: sie sind also plötzlich zum Almosenempfänger geworden. Das ist natürlich für sie ein sozialer Abstieg. Aber in den meisten Fällen ist das eine temporäre Armutssituation. Zwar fallen manche in eine langfristige Armut, das war auch bei den Migrationen im 19. Jahrhundert so: Nicht alle schaffen es, vor allem Frauen und ältere Menschen sind armutsgefährdet. Aber per se müssen wir uns von dem Bild trennen, das vor allem von einigen politischen Parteien verbreitet wird, dass nur Arme zu uns kommen, um unser Sozialsystem auszunutzen.

DER STANDARD: Hat die Figur des Zugewanderten als desjenigen, der das Sozialsystem ausnützt, auch historisch eine längere Tradition?

Hahn: Nicht wirklich, vor allem nicht in der langen Perspektive. Das soziale Netz, der Wohlfahrtsstaat, wie wir es kennen, ist ja erst vergleichsweise jung und noch nicht lange in der europäischen Gesellschaft verankert. Sehen Sie sich beispielsweise die Armutszahlen für die USA an, wo rund 46 Millionen in prekären Verhältnissen und meist ohne Krankenversicherung leben. Da müssen wir auch einmal unsere eurozentristische mitteleuropäische Wohlfahrtsbrille abnehmen.

DER STANDARD: Historisch waren im Habsburgerreich Sozialleistungen an das Heimatrecht gebunden, was durch die starke Binnenmigration im 19. Jahrhundert zum Problem wurde.

Hahn: Das ist richtig. Die Versorgung der Arbeitslosen und Alten war damals Aufgabe der Gemeinden. Um Anspruch auf Unterstützung zu bekommen, musste man in dieser Gemeinde das Heimatrecht besitzen. Dieses wurde in männlicher Linie vererbt beziehungsweise vom Ehemann auf die Ehefrau übertragen. Aufgrund der hohen Mobilität im 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung kam es zu einer sehr restriktiven Gesetzgebung in den 1860er-Jahren. Danach konnten die zig Millionen Arbeitsmigranten in der Habsburgermonarchie kaum mehr das Heimatrecht an einem neuen Aufenthaltsort erlangen. Dies führte dazu, dass fast in allen Städten rund zwei Drittel der Bevölkerung nicht heimatberechtigt waren – und das über mehrere Generationen hinweg.

DER STANDARD: Was war die Folge?

Hahn: Die Konsequenz war, dass arbeitslose, arme oder generell zu versorgende Menschen in ihre so genannte Heimatgemeinde abgeschoben werden konnten. Viele kannten diese Gemeinden überhaupt nicht – insbesondere nicht Frauen, die ja generell bei Heirat das Heimatrecht ihres Mannes annehmen mussten. Das war die große Ungerechtigkeit im 19. Jahrhundert. Erst zu Beginn des 20. Jahrhundert wurde dieses Gesetz reformiert, da es zu diesem Zeitpunkt bereits unmöglich geworden war, all die davon betroffenen Menschen kreuz und quer durch die Monarchie in ihre Heimatrechtsgemeinden zu verschieben. Das sollte man auch heute bedenken – auch im Hinblick auf die bei uns noch immer durch Vererbung und nicht durch die Geburt zu erlangende Staatsbürgerschaft. Dass das Versorgungssystem bei uns im 20. Jahrhundert dann endlich auf eine andere Ebene gehoben wurde, war richtig und gut. Ich befürchte, dass wir mit der jetzigen Diskussion bald wieder einige Schritte zurück – in Richtung Heimatrecht – machen.

DER STANDARD: Sprechen Sie da die Diskussion über die Kürzung der Familienbeihilfe für EU-Ausländer an?

Hahn: Ja, das ist ein Beispiel dafür. Es wäre fatal, wenn wir wieder verschiedene Klassen von Menschen schaffen, die je nach ihrer Herkunft Zugriff auf Sozialleistungen haben. Damit wiederholen wir das System von würdigen und unwürdigen Armen und gehen in Richtung des alten Systems: Wir hätten einerseits diejenigen, die als ansässig gelten und dadurch Zugang haben – wobei eine solche Ansässigkeit oder die Staatsbürgerschaft ja keineswegs leicht zu erwerben ist, wie wir wissen. Und andererseits gibt es dann diejenigen, die zwar zum Sozialsystem durch ihre Erwerbsarbeit beitragen aber aufgrund ihrer regionalen Herkunft keinen oder einen beschränkten Zugang zu Sozialleistungen haben. Das wäre meiner Meinung nach wirklich ein großer Rückschritt. (Heidemarie Weinhäupl, 9.3.2016)