Kinder in einem griechischen Flüchtlingslager nahe der Grenze zu Mazedonien.

Foto: APA/AFP/LOUISA GOULIAMAKI

Bild nicht mehr verfügbar.

Nikos Xydakis ist in Griechenland zuständig für die EU-Politik der Regierung. Er glaubt, dass die derzeitige Flüchtlingskrise erst vorbei ist, wenn die Kriege in Syrien, im Irak und im Libanon beendet sind.

Foto: AP Photo/Thanassis Stavrakis

STANDARD: Wie groß ist der politische Schaden, der durch die Grenzschließungen entstanden ist, die Österreich und die EU- und Nicht-EU-Mitglieder auf dem Balkan veranlasst haben?

Xydakis: Der Schaden ist da, und er betrifft vor allem das Verhältnis zwischen Griechenland und Österreich. Wir haben seit langen Jahren sehr gute Beziehungen miteinander. Ich glaube, wir werden sie auch wieder haben. Aber der humanitäre Korridor von der Türkei in den Norden Europas ist jetzt geschlossen und Griechenland sitzt in der Falle. FYROM (Die Frühere jugoslawische Republik Mazedonien, Anm.) lässt pro Tag jetzt 75 Personen durch. Das ist einigermaßen lächerlich. Nach welchen Kriterien wird dort entschieden, wer passieren darf und wer nicht? Die allermeisten Menschen dort an der Grenze haben dieselben Profile: Sie sind entweder Flüchtlinge, oder sie sind keine. Was die Europäische Union braucht, ist eine völlige Reform ihres Asylsystems. Eine neue Regelung, wie Menschen in Europa Asyl beantragen und wie über die Anträge entschieden wird. Wenn wir eine gemeinsame Politik haben, muss sie von allen 28 Mitgliedsstaaten getragen werden. Das ist zur Zeit nicht der Fall. Manche folgen der gemeinsamen Linie, andere nicht.

STANDARD: Das ist ja wohl ein ziemliches Problem für Athen?

Xydakis: Der amerikanische Außenminister hat es eine existentielle Krise der Europäischen Union genannt. So sehe ich das auch. Wenn zwei grundlegende Prinzipien der Union nicht befolgt werden – Proportionalität und Solidarität –, dann gibt es auch keine Union mehr. Dann kehren wir alle zu unserer Nationalstaatspolitik zurück mit Grenzkontrollen und unterschiedlichen politischen Entscheidungen und den Konflikten, die sich daraus ergeben.

STANDARD: Sie haben die griechische Botschafterin in Wien aus Protest gegen die Grenzschließung zu Konsultationen zurückgerufen. Was passiert nun? Gibt es einen Termin für die Rückkehr der Botschafterin?

Xydakis: Nein, noch nicht. Unsere diplomatischen Beziehungen sind nicht unterbrochen, sie bestehen weiter. Ich gehe davon aus, dass es nach dem EU-Sondergipfel am Montag und nach dem regulären Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs Mitte März einen neuen Konsens in der Flüchtlingsfrage geben wird.

STANDARD: Es gibt Signale in Brüssel, denenzufolge eine Verständigung mit der Türkei gefunden wurde. Die Türkei soll nun angeblich bereit sein, alle nicht-syrischen illegalen Immigranten zurückzunehmen.

Xydakis: Ich hoffe das. Die Türkei ist das Tor der Flüchtlinge nach Europa. Wenn die Türkei mit Europa kooperieren und den Flüchtlingsstrom auf wenige Hundert Menschen am Tag reduzieren kann, wäre das eine Größenordnung, mit der wir arbeiten können. Einige Hundert Menschen am Tag kann man registrieren, überprüfen, man kann entscheiden, wer illegaler Immigrant ist und wer tatsächlich schutzbedürftig ist. Für diese Kooperation erhält die Türkei politische Vorteile. Es geht nicht so sehr um das Geld, aber um wertvolle politische Vorteile wie die Visaliberalisierung für türkische Staatsbürger. Wir unterstützen das natürlich.

STANDARD: Das Schlüsselelement für eine Vereinbarung mit der Türkei ist die Umsiedlung syrischer Kriegsflüchtlinge nach Europa. Das Ausfliegen eines täglichen Kontingents an Syrern in die EU. Glauben Sie, die deutsche Kanzlerin wird beim Gipfeltreffen am Montag und danach ausreichend Unterstützung für diesen Plan finden?

Xydakis: Frau Merkel wird diese Unterstützung einfordern und sie wird dabei die Teilnehmer an alle früheren Beschlüsse des Europäischen Rats erinnern. Sie muss das tun, sie hat die Pflicht und das Recht dazu. Auch Alexis Tsipras und Matteo Renzi werden es tun.

STANDARD: Das macht schon drei EU-Staaten von 28 ...

Xydakis: Es gibt weitere Mitgliedsstaaten, die vom Flüchtlingsstrom stark betroffen sind – Schweden oder Österreich zum Beispiel. Ich habe immer die Leistung der Österreicher gelobt. Sie haben mehr als 90.000 Menschen aufgenommen. Die Grenzschließung jetzt ist ein anderes Thema. Ich glaube, wenn Kanzlerin Merkel zusichern kann, dass Deutschland einen bedeutenden Teil der umzusiedelnden Syrer aufnimmt, dann werden ihr andere EU-Staaten folgen. Hier liegt die Existenzfrage unserer Union, das Prinzip der Proportionalität. Für die Verteilung syrischer Flüchtlinge aus Griechenland und Italien hat sich die EU bereits auf einen Schlüssel geeinigt. Er wird wohl derselbe sein für die Umsiedlung syrischer Flüchtlinge aus der Türkei. Wenn man das nicht akzeptiert, dann akzeptiert man nicht das Grundprinzip der EU-Verträge. Und wenn Ungarn zum Beispiel nicht bereit ist, die Lasten unserer Union mitzutragen, dann darf es auch keine Vorteile etwa vom gemeinsamen Haushalt der Union haben.

STANDARD: Das wäre das Ende der Europäischen Union.

Xydakis: Das Ende vom Ende. Der Anfang vom Ende der EU ist, wenn ein Mitgliedsstaat erklärt: Ich nehme keine Flüchtlinge auf, ich akzeptiere meine Quote nicht. Bei der Verteilung syrischer Flüchtlinge haben bisher nur 15 EU-Staaten auf die Bitten von Italien und Griechenland geantwortet. Nur ein halbes Dutzend Länder hat sich dann auch tatsächlich beteiligt. Und die Zahlen sind klein, wie Sie wissen, um die 400 Menschen bisher von 160.000, die wir in Brüssel vereinbart hatten. Glücklicherweise gibt es bilaterale Initiativen: Portugal hat uns angeboten, 6000 Flüchtlinge zu nehmen. Die spanische Region Valenzia nimmt 1000.

STANDARD: Glauben Sie nicht, dass es nach diesem Jahr 2015 eine Art "Flüchtlings-Müdigkeit" in der europäischen Öffentlichkeit gibt? Die Leute wollen keine neuen Flüchtlinge mehr kommen sehen.

Xydakis: Ja, ich verstehe das schon. Wir müssen viel und überzeugend mit den Bürgern unserer Staaten sprechen. Wir müssen ihnen Daten und Argumente präsentieren. Das hier ist ein globales Ereignis, eine historische Bewegung. Das geschieht im Lauf der Geschichte immer wieder einmal. Manchmal sind diese Bewegungen sehr groß und kommen nicht leicht zu einem Ende.

STANDARD: Können Sie sagen, wann diese Flüchtlingskrise vorbei ist? In zwei, in fünf Jahren?

Xydakis: Ja, das kann ich. Wenn der Krieg in Syrien, im Irak, in Libyen vorbei ist. Die Frage ist, was wir tun und was wir in den vergangenen fünf Jahren getan haben, um den Krieg zu beenden. Wie bringen wir zum Beispiel Frankreich, das mitverantwortlich für das Chaos in Libyen ist, dazu, mehr für Frieden und Stabilität zu wirken? Der Westen hat nicht viel getan, um diese Krisen zu entschärfen. Es ist ein gutes Geschäft für Unternehmen, die Munition verkaufen.

STANDARD: Die EU-Kommission ist offenbar weiterhin nicht überzeugt, dass Griechenland alle Flüchtlinge registriert. Kommissar Avramopoulos hat eine Frist bis Mitte Mai verkündet. Danach gebe es Konsequenzen für Griechenland als Mitglied der Schengenzone.

Xydakis: Die Kommission kann gern kommen und das überprüfen. Die Registrierungsrate liegt meines Wissens bei weit über 90 Prozent, bei 98 Prozent. Wir könnten fragen, wie die Rate in Deutschland oder Österreich ist. Ich glaube nicht, dass sie bei 100 Prozent liegt. Dort sind den Behörden Flüchtlinge verlorengegangen. Das passiert überall, nicht nur in Griechenland in den vergangenen sechs Monaten.

STANDARD: Wann darf Frau Mikl-Leitner nach Athen?

Xydakis: Wir werden am selben Tisch mit Österreich sitzen, schon am Montag beim EU-Gipfel. Unsere Beziehungen sind ja nicht abgebrochen. Es ist eine schlechte Zeit, und die geht vorbei. Ich mag Österreich. Ich bin nur überrascht, wie die Wiener Diplomatie ihren so berühmten, auf Flexibilität und Ausgleich bedachten Stil verloren hat. Sie werden das wieder finden. Tradition ist stärker als einzelne Personen. (Markus Bernath aus Athen, 5.3.2016)