Baufrauen: Yvonne Farrell (links) und Shelley McNamara gründeten 1978 das Büro Grafton Architects.

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Aufregende Strukturen: der Uni-Campus UTEC in Lima (Peru).

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STANDARD: Wie oft passiert es Ihnen, dass ein Interview mit Frauenklischees und Emanzipationsthemen beginnt?

Farrell: Immer wieder, aber zum Glück immer seltener. Mittlerweile realisieren die Leute, dass zwei Frauen durchaus in der Lage sind, ein großes Architekturbüro zu leiten.

STANDARD: Und was antworten Sie, wenn diese Frage kommt?

Farrell: Ich zitiere sehr gerne die irische Schriftstellerin Eavan Boland, die meint, Gesellschaft sei eine Balance aus Männlichkeit und Weiblichkeit. Das eine geht nicht ohne das andere. Es geht um die Synthese, um die Gleichzeitigkeit von Yin und Yang. So gesehen hat jeder und jede von uns seinen und ihren Beitrag zu leisten.

STANDARD: Woran liegt es, dass Frauen in der Baubranche noch immer in der Minderzahl sind?

Farrell: An vielen verschiedenen Dingen, aber auch an Ihnen als Journalist. Eine große Verantwortung an dieser Verzerrung der Realität tragen die Medien, die weibliche Arbeitskräfte in dieser Branche immer noch als etwas Ungewöhnliches darstellen. So wie wir gerade dieses Interview hier führen, weil Sie mir gesagt haben, dass Sie in Ihrer Zeitung an diesem Wochenende einen Schwerpunkt zum Thema Geschlechterverhältnisse in der Gesellschaft behandeln.

STANDARD: Der männliche Überhang in der Baubranche ist ein Faktum.

Farrell: Ja, das schon. Aber genauso wenig wie man die Boeing 747 verlässt, nur weil man kurz vor dem Start die Frauenstimme aus dem Cockpit vernimmt, spielt dieses Thema auch in der Architektur noch eine Rolle. Männer, Frauen ... egal. Was zählt, ist die Fähigkeit, eine Idee Realität werden zu lassen. Und eine gute, eine verdammt gute Managerin zu sein.

STANDARD: Sie und Ihre Partnerin Shelley McNamara haben das Büro 1978 gegründet. Damals war das Milieu noch ein anderes.

Farrell: Ich habe es immer geliebt und es auch immer als Privileg empfunden, diesen Job aus der Sicht der Frau auszuüben. Wir haben uns von Anfang an mit Fragestellungen beschäftigt, die im männlich dominierten Milieu damals noch nicht so en vogue und so selbstverständlich waren wie heute: Soziales, Kommunikation, menschliche Beziehungen, Verhältnis des eigenen Körpers im Raum, die Liebe zum kleinen Maßstab und die Fähigkeit, sich an Bestehendes, an bereits existierende Werte und Geschichten anzupassen.

STANDARD: Ist das etwas Frauenspezifisches?

Farrell: Das war es damals. Ausnahmen gab es immer. Jene Männer sind in die Geschichte eingegangen.

STANDARD: Die Università Luigi Bocconi in Mailand, die Sie 2008 fertiggestellt haben, ist nicht gerade fein und grazil. Das ist ein ziemlich massiver Steinbrocken, den Sie da hingestellt haben.

Farrell: Bocconi war eines unserer ersten großen Projekte im Ausland. Wir waren – als eines von insgesamt acht oder zehn Architekturbüros – zu einem europaweiten Wettbewerb eingeladen. Wir und Italien! Shelley und ich haben uns damals sehr intensiv über das Thema unterhalten und wussten: Das wird ein Maßstabssprung in unserer Arbeit! International gesehen war das unser großer Durchbruch.

STANDARD: Zu dieser Zeit hat in Irland die Wirtschaftskrise begonnen. Wie war die Situation damals?

Farrell: Es war eine sehr traurige Zeit. Vor der Krise haben wir in Irland viele schöne Projekte realisieren können: Schulen, Universitätsgebäude, öffentliche Kulturbauten. 2008 war das alles mit einem Schlag vorbei. Die Wirtschaftskrise lag wie eine schwarze Wolke über dem Land.

STANDARD: Wie haben Sie all die Jahre überlebt?

Farrell: Wir mussten das Büro verkleinern, Leute kündigen und Gehälter kürzen. Es war hart. Shelley und ich wussten: Projekte in Irland können wir in den nächsten Jahren vergessen. Also haben wir begonnen, sehr aktiv an internationalen Wettbewerben teilzunehmen.

STANDARD: Einige davon haben Sie gewonnen.

Farrell: Ja, wir hatten eine wirklich gute Siegerquote in dieser Zeit. Und als Folge dessen haben wir kurz darauf in London und Paris gebaut. Das waren große Projekte. Ich denke, dass uns das gerettet hat.

STANDARD: Wenn man sich die Projekte der letzten Jahre anschaut, merkt man, dass die Bauten tatsächlich immer größer und immer wuchtiger werden. Woran liegt das?

Farrell: Das ist alles relativ. Der spanische Architekt Alejandro de la Sota, eine der Schlüsselfiguren der iberischen Moderne, hat einmal gesagt, die Aufgabe von Architekten sei es, so viel Nichts wie möglich zu bauen. Schauen Sie sich nur einmal eine japanische Teeschale an! Die Lippen berühren nur einen Hauch von millimeterdünnem Material. Es ist der leere Raum innerhalb der Schale, der die Schönheit dieses Gefäßes ausmacht. So ist es auch mit unseren Gebäuden.

STANDARD: Sie sind eine Architektin der Leere?

Farrell: Und ich bin eine große Anhängerin der Wiener Secession. Seit ich diesen goldenen Krautkopf an der Wienzeile zum ersten Mal gesehen habe, fasziniert mich die Eleganz dieser minimalen Hülle um den maximalen Raum herum.

STANDARD: Ihre eigene Arbeit bezeichnen Sie immer wieder als gebaute Geografie. Was meinen Sie damit?

Farrell: Der Anteil der städtischen Weltbevölkerung wird, wie wir alle wissen, immer größer und geht auf die 60, 70 Prozent zu. Das bedeutet, dass sich – parallel zur natürlichen Geografie eines Landes – zunehmend eine gebaute, eine urbane Geografie entwickelt, die es auch zu gestalten gilt.

STANDARD: Heißt das, dass die von Menschenhand errichtete Stadt zunehmend zum Ersatz für die Natur wird?

Farrell: Realistisch gesehen, ja. Für viele Menschen ist es so. Es geht nicht darum, ob ich das gut finde oder nicht. Es geht darum, dass wir als Architektinnen unseren Beitrag leisten möchten, um diesen Zustand bestmöglich mitzugestalten. Der Universitätscampus UTEC in Lima (Peru) ist für mich ein wunderbares Beispiel für das, was ich meine. Das ist ein vertikaler, offener Campus mit Höhlen, Plattformen und aufregenden Strukturen, die sich am konkreten Standort orientieren. Ein paar Hundert Meter weiter verläuft die schroffe, bis zu 30 Meter hohe Felsküste, die die Stadt am Pazifik abrupt enden lässt. Wir haben uns von diesem Umstand räumlich inspirieren lassen.

STANDARD: Abschlussfrage ...

Farrell: Jetzt darf ich mir etwas wünschen, oder?

STANDARD: Möchten Sie das denn?

Farrell: Unbedingt! Es spricht die Frau aus dem Cockpit ... Wissen Sie, es gab und gibt so viele großartige Architektinnen auf dieser Welt: Denise Scott Brown, Amanda Levete, Julia Morgan, Louisa Hutton, Odile Decq, Benedetta Tagliabue, Lina Bo Bardi, um nur einige zu nennen. Sie alle haben Wunderbares geleistet. Ich finde es schade, dass diesen Personen weniger Aufmerksamkeit zuteilwird, als ihnen gebührt. Ich wünsche mir, dass sich das bald ändert. Und ich wünsche mir, dass endlich der Pay-Gap zwischen Mann und Frau verschwindet. In jeder Branche verdient eine Frau deutlich weniger als ein Mann mit gleicher Ausbildung, mit gleichen Fähigkeiten, mit gleicher Leistung. Das ist schockierend. Das geht in mein Hirn nicht rein. (Wojciech Czaja, 9.3.2016)