Mit einer Wahrheit, die nackter als nackt ist, die Seele erlösen: Hermann Nitschs "Materialaktion Nr. 14" (1964).

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Egon Schiele: "Selbstbildnis mit gesenktem Kopf" (1912).


Foto: Leopold-Museum / Manfred Thumberger

Wien – Wenn über die Extreme moderner österreichischer Kunst gesprochen wird, sind die Wiener Aktionisten rasch auf dem Tableau: die Materialschlachten Otto Mühls, Günther Brus' Selbstverletzungen, Nitschs Orgien-Mysterien-Theater sowieso. Nun soll es schon vorgekommen sein, dass in einschlägigen Diskussionen die Wiener Moderne als entgegengesetzter, "besserer", Entwurf angeführt wurde. Klimt, Schiele, Kokoschka: Das ist halt noch eine schöne Kunst gewesen, nicht so banal körperfixiert.

Wer dieser Auffassung sein sollte, dem könnte die Ausstellung Körper, Psyche und Tabu im Museum moderner Kunst Wien (Mumok) ein wenig auf den Schlips treten: Ihr Ziel besteht nämlich darin, die Verwandtschaft zwischen Wiener Moderne und Aktionisten aufzuzeigen. Eine Grundthese von Kuratorin Eva Badura-Triska lautet, die Expressionisten seien wesentlich moderner gewesen, als man ihnen zutraut: Sie machten zwar im klassischen Sinn moderne Strömungen wie Futurismus und Kubismus nicht mit – anstelle dessen hätten jene Jahrhundertwendekünstler aber nichts Geringeres als eine frühe Form der Körperkunst praktiziert.

Nackte Wahrheit

Nun muss man relativieren: Natürlich wirkt jemand wie Richard Gerstl wie ein Lämmchen gegenüber einem wilden Hund wie Günter Brus. Verließen in dessen Selbstverletzungen gar die Körpersäfte ihre Bahnen, so bleibt bei Gerstls Selbstbildnis mit Palette (1908) alles im (Bilder-)Rahmen. Und dennoch handelt es sich um nichts weniger als den ersten Selbstakt. Es ist ein Blick auf nackte Tatsachen ohne jede Verschleierung, die etwa noch Klimt in seiner berühmten Nuda Veritas (1899) betrieb: Um dem Skandalon entgegenzuwirken, dass er einen individuellen Akt gemalt hatte, verallgemeinerte er die Dargestellte mittels Spiegels und Schlange zur Allegorie.

Der Körper schlich sich jedoch schon zuvor in die Kunst ein. Präambel der Ausstellung ist ein Exkurs zum psychologischen Porträt etwa Oppenheimers: von einer idealisierten Darstellung abrückend, bezog man etwa Hände und Körperhaltungen ein. Zugrunde lag nicht zuletzt der neue Gedanke, dass sich die Psyche über den Körper Ausdruck verleihe, wobei man sich immer wieder auch just mit Gesten und Mimiken psychisch Kranker befasste.

Die Wunden der Gesellschaft

Das einfühlsame Interesse für die sozial Ausgegrenzten stiftet indessen eine weitere Verbindung zwischen Wiener Moderne und Aktionismus: Isoliert waren nämlich auch die Künstler beider Zeiten, insofern sie im Bereich des Verdrängten und Tabuisierten operierten. Waren es zu Beginn des Jahrhunderts etwa die Frauen- und Nationalitätenfrage, die sich der "Mainstream" nicht stellte, so waren später freilich der Umgang mit der Katastrophe des Nationalsozialismus und die dräuenden 68er-Bewegungen "wunde Punkte".

Als etablierte Agentin sozusagen ganzheitlicher Verdrängung – nicht zuletzt der Körperwelt – bildet auch die Kirche einen wesentlichen Bezugspunkt für beide Bewegungen: Man übernahm Gewänder und Ikonografien oder ersann – wie etwa Hermann Nitsch – überhaupt alternative Rituale im Sinne eines nun sinnlich-körperlich orientierten Seelenheils.

Unerhörte Zerrissenheit

Ein Teil der Ausstellung befasst sich aber auch mit dem Märtyrertum: Gegenübergestellt sind hier etwa Selbstdarstellungen Brus' und Kokoschkas, denen nicht nur die Bezugnahme auf Jesu Seitenwunde, sondern außerdem die auf den Körper gezeichnete Mittellinie gemeinsam ist, mit der man auf eine unerhörte Form der Verletzt- und Zerrissenheit hinwies.

Dass Körper, Psyche und Tabu flächendeckend für neue, überraschende Erkenntnisse sorgt, ist nicht zu erwarten, die Zusammenschau der "Klassiker" und der Aktionisten hat aber großen Reiz. Und Letztere haben bis auf Weiteres sowieso kein Ablaufdatum, weil sie gerade jetzt, in Zeiten der Körperlosigkeit, ebendiese Leerstelle füllen. Zu den spannenden Momenten der Schau gehört aber insbesondere auch jener Raum, der Kokoschkas expressionistischem Theaterstück Mörder, Hoffnung der Frauen gewidmet ist: Als Inszenierung des Geschlechterkampfes in sinnlichen Erfahrungen geht es sozusagen als erste Wiener "Aktion" durch. (Roman Gerold, 2.3.2016)