Ein Flüchtlingsbub an seinem ersten Schultag in einer deutschen Klasse.

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Wien – Die Forschung geht davon aus, dass Hochbegabung über alle Kulturen gleich verteilt ist. Trotzdem sind Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Begabtenförderungsprogrammen unterrepräsentiert und haben weniger Erfolg in der Schule als Einheimische. Laut dem Psychologen Haci Halil Uslucan ist daran ein kulturell verengter Blick Schuld, er fordert einen breiteren Begriff von Begabung.

Hochbegabung sei nicht nur eine Frage des Intelligenzquotienten, betont der Forscher, der am Donnerstag bei der Tagung "Talents in Motion" des European Council for High Ability einen Vortrag über die Verkennung der Talente hochbegabter Zuwanderer halten wird. "Wir haben hier einen verengten Blick auf das, was in Westeuropa als kulturell außergewöhnlich gut gilt."

Mittelschicht erkennt Mittelschicht

Als weitere "Mechanismen der Verkennung" nennt Uslucan etwa Tests, die so sprachlastig oder auf die hiesige Kultur fokussiert sind, dass Zuwandererkinder dabei nicht ihre Stärken zeigen können, oder die sogenannte "Habitusverwandtschaft", die dafür sorgt, dass Lehrer aus der Mittelschicht bei Mittelschichtkindern wegen der sich ähnelnden Ideale Begabungen eher erkennen.

Dazu kommt, dass Zuwanderer manchmal nur jene Potenziale ihrer Kinder sehen wollen, die gesellschaftlich akzeptiert sind und daher ästhetische, expressive oder poetische Talente verkennen. Neben Lehrern, Erziehern und Psychologen sind aus Uslucans Sicht deshalb auch Kulturschaffende gefragt, Leistungen aus anderen Kulturkreisen wie den türkischen Kolbasti-Tanz oder das Spielen der Langhalslaute Saz stärker zu würdigen. Und er fordert zudem, dass auch Leistungen aus anderen Bereichen, etwa manuelle Fertigkeiten, stärker anerkannt werden.

Wertschätzen, was sich nicht rentiert

"Gerade im Kontext der Flucht- und Zuwanderungsdebatte kann es Menschen geben, die etwas außergewöhnlich gut können, für die wir aber keine Wertschätzungen in Industriegesellschaften haben, weil sich das hier nicht rentiert, finanziell auszahlt oder eine gesellschaftliche Reputation fördert", kritisiert Uslucan die Vergeudung von Ressourcen. In einem ersten Schritt fordert der Wissenschafter mehr Wertschätzung und Anerkennung ein. "Wenn man im Kontext von Integrationsfragen auch will, dass Zuwanderer relevante kulturelle Besonderheiten beibehalten können, wäre im zweiten Schritt auch Förderung denkbar."

In einem Forschungsprojekt versucht er gerade mit seinem Team anhand von 50 Fallstudien herauszufinden, ob Lehrpersonal überhaupt bei Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund Potenziale vermuten und fördern. Interessant sei dabei etwa, ob sie deren Leistungen nur mit jenen anderer Schüler vergleichen oder auch die Entwicklung der einzelnen Schüler beobachten und ob sie den sozialen Hintergrund berücksichtigen. Es sei nämlich ein Unterschied, ob ein Kind aus einem Akademikerhaushalt gute Leistungen erbringe oder ob die Eltern, wie in vielen türkischen Familien, nur die Volksschule abgeschlossen haben. "Dann sind viel stärker intellektuelle Potenziale des Kindes zu vermuten, weil die Leistung dann nicht auf elterliche Förderung zurückgehen kann."

Perspektivenwechsel im Migrationsdiskurs

Uslucan tritt für einen Perspektivenwechsel im Migrationsdiskurs ein: "Wir brauchen nicht diese defizitorientierte Perspektive, was Zuwandererkinder alles nicht können, sondern sollten sehen, was sie können." So sei der Sprachschatz eines bilingualen Kindes vielleicht auf die zwei Sprachen verteilt – wenn man es nur in einer Sprache teste, könne man das Potenzial des Kindes nicht erfassen.

Auch im Bildungssystem müsste sich laut Usluscan etwas ändern, wenn hochbegabte Zuwanderer mehr Chancen bekommen sollen, ihre Stärken zu zeigen: Man wisse etwa aus der Forschung, dass es einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Schulbesuch gebe, Flüchtlingskinder seien aber oft über Jahre nicht in Bildungseinrichtungen gewesen. Außerdem kämen Kinder mit Zuwanderungsgeschichte mit ganz unterschiedlichem Vorwissen in die Volksschule. Bis zum Alter von zwölf Jahren könnten Kinder allerdings sehr viel aufholen. In einem System mit früher Aufsplitterung in verschiedene Schultypen, wie es in Deutschland und Österreich vorhanden sei, lasse man den Kindern aber nicht genug Zeit dafür. (APA, lima, 2.3.2016)