Heute werden Flüchtlinge oder ausländische Bezieher von Familienbeihilfe als potenzielle Sozialschmarotzer abgestempelt – früher waren es alleinerziehende Mütter.

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Wien – In Politik und Öffentlichkeit werden Arme immer noch "als Unterschichtsdeppen gesehen, die nichts können, oder als Opfer, die alles brauchen", kritisiert Martin Schenk von der Armutskonferenz. Doch das liegt nicht – oder zumindest nicht nur – an der fehlenden Forschung, sagt Sylvia Hahn vom Zentrum für Ethik und Armutsforschung an der Universität Salzburg: "Die Armutsforschung hat in den letzten 20 Jahren eigentlich einen enormen Aufschwung erlebt."

Hinterfragt und verfeinert wurde zum einen das Konzept von Armut an sich in Bezug auf statistische Messbarkeit. "Armut nur auf Basis des Einkommens zu bemessen greift zu kurz", erklärt Anna Riebenbauer, die stellvertretende Leiterin der Abteilung für Sozialpolitische Grundlagen und Forschung im Sozialministerium.

EU-weit werden derzeit drei Faktoren kombiniert, um Armut zu messen: Einkommen, Arbeit und Lebensstandard. Als armuts- und ausgrenzungsgefährdet gilt, wer zumindest von einem Faktor betroffen ist, also entweder zu wenig verdient, keine beziehungsweise zu wenig Arbeit hat oder sich Grundbedürfnisse wie Heizung, Urlaub, Auto nicht leisten kann. In Österreich sind das derzeit 1,6 Millionen Menschen.

Mehrfach betroffen und damit manifest arm sind 410.000 Menschen. Wer mehrfach ausgegrenzt ist, hat auch deutlich schlechtere Lebensbedingungen, sagt Riebenbauer: "Armutsgefährdete gehen beispielsweise weniger oft zum Arzt, können sich Zahnbehandlungen nicht leisten oder können keine 15 Euro pro Monat sparen." Besonders armutsgefährdet sind dabei kinderreiche Familien und Alleinerziehende.

Armutsfaktoren

Die statistischen Daten zu den Armutsfaktoren werden seit dem Jahr 2003 EU-weit erhoben – in Österreich werden für die EU-SILC-Erhebung jährlich 6000 Haushalte befragt. Die Kosten von rund 1,1 Millionen Euro werden vom Sozialministerium getragen. Die Ergebnisse werden publiziert, unter anderem auch online, und fließen in die inhaltliche Arbeit des Sozialministeriums ein.

Auch in Forschungsinstituten wie dem für soziale, ökonomische und ökologische Ungleichheiten an der Wirtschaftsuniversität Wien, das 2015 gegründet wurde, baut man auf diesen und anderen Datensätzen auf, um nicht nur Armut, sondern auch Reichtum in den Blick zu nehmen. "In der Ungleichheitsforschung sehen wir uns nicht nur den unteren Bereich an, sondern auch den oberen Rand und die Zusammenhänge", erklärt Stefan Humer vom Institut für Economics of Inequality.

"Wenn mein Vater besonders schlecht oder besonders gut verdient, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich auch entsprechend verdiene", sagt Humer. In der Mitte der Gesellschaft gebe es da mehr Mobilität. Wie viel Vermögen man hat, wird in Österreich wiederum besonders stark von Erbschaften bedingt, zeigte er in seiner Dissertation, die auch im Rahmen des Wissenschaftspreises des Sozialministeriums gewürdigt wurde.

Perspektivenwechsel

Bei quantitativen Studien ist Österreichs Armutsforschung durchaus anerkannt, auch in der Ungleichheitsforschung "brauchen wir uns nicht zu verstecken", wie Humer sagt. Aus Sicht der Armutskonferenz wichtig wären aber mehr tiefergehende Studien: "Zahlen sind das eine, aber das andere ist es zu wissen, wie Betroffene selbst ihre Lage einschätzen und wie sie agieren", sagt Schenk. Getan hat sich aber auch hier etwas. Ein Beispiel dafür ist eine partizipativ angelegte Studie von Schenk und Florian Riffer zu den Lücken und Barrieren im österreichischen Gesundheitssystem aus Sicht von Armutsbetroffenen: Die Betroffenen wurden befragt, kommentierten die Auswertung und erarbeiteten 15 Forderungen.

Auch andere bezogen die Sichtweisen Betroffener mit ein und lieferten höchst interessante Ergebnisse – beispielsweise Manfred Krenn von der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt in seiner Studie zu Prekarisierung und Sozialhilfe und Manuela Brandstetter von der FH St. Pölten zur Bewältigung von Armut am Land. Sichtbar wird bei diesen und anderen Studien, dass Armut mittlerweile weit in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht.

Mindestsicherung

Zwar liegt die Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung in Österreich bei 19 Prozent und damit deutlich unter dem EU-Schnitt von 25 Prozent. Dennoch geht die Schere zwischen Armen und Wohlhabenden immer weiter auf – unter anderem auch, weil immer mehr Teilzeitjobs und prekäre Jobs entstehen. "Höchstens zehn Prozent sind Mindestsicherungs-Dauerbezieher", erklärt Schenk, "der bei weitem größte Teil sind mittlerweile Leute, die kurzfristig die Mindestsicherung haben, wieder herauskommen, zwischen schlechten und prekären Jobs hin- und herpendeln."

In der Politik sei das noch nicht angekommen: "Diese Forschungsergebnisse vermotten in den Archiven des Schweigens und sind nicht Teil der politischen und öffentlichen Debatte", kritisiert der Sozialexperte der Diakonie Österreich. Viele hätten noch alte Bilder von Alkoholikern, Haftentlassenen und Spielsüchtigen im Kopf, doch "wenn ich auf diesen Bildern eine Politik aufbaue, dann komme ich zu den falschen Maßnahmen", erklärt Schenk. Beispielsweise eben zu einer Kürzung der Mindestsicherung, wobei derzeit die Flüchtlinge quasi den Vorwand liefern würden.

Historische Konstanten

Auch Sylvia Hahn, die Vizerektorin der Universität Salzburg, sieht derzeit massive Rückschritte in der Debatte – aber auch Konstanten über die Jahrhunderte hinweg: "Natürlich hat sich die Sicht auf Armut im Laufe der Jahrhunderte verändert, aber gleich geblieben ist eine Teilung zwischen würdigen und unwürdigen Armen", sagt die Historikerin.

Immer wieder würden Gruppen geschaffen, die als potenzielle Sozialschmarotzer abgestempelt werden: In den 1980ern und 1990ern etwa alleinerziehende Mütter, bei denen mit Zahnbürstenkontrollen überprüft wurde, ob sie auch wirklich nicht in Partnerschaft leben, heute seien es die Flüchtlinge oder ausländische Bezieher von Familienbeihilfe.

Forschungsthemen gebe es noch genug – beispielsweise zu Armut im Alter und zur medialen Debatte über Armut. "Auch bei Armut am Land gibt es noch Aufholbedarf", sagt Schenk. Gleichzeitig kämpft aber die Armutsforschung mit prekären, projektabhängigen Jobs und begrenztem Budget. "Große Firmen interessiert das Thema ja nicht wirklich", sagt Hahn. Allerdings steigt das Interesse der EU an der Ungleichheitsforschung, sagt Humer von der WU Wien, "da hat sich in den letzten Jahren einiges gebessert". (Heidemarie Weinhäupl, 8.3.2016)