Das Verhältnis zwischen Journalisten und Medienkonsumenten verändert sich – auch im STANDARD. Technologische und wirtschaftliche Umbrüche bringen auch neue medienethische Debatten. (Foto: DER STANDARD)

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Wien – "Die Leser nicht deppert sterben lassen" – unter diesem Titel erschien vor wenigen Wochen im Standard ein Auszug aus einer internen Debatte, die unter den Redakteuren des Mediums per Mail geführt wurde. Es ging um die Frage, ob man die afghanische Herkunft eines jungen Asylwerbers, der im Wiener Prater eine 18-jährige Frau vergewaltigt haben soll, nennen sollte. Der Einblick in den Meinungsbildungsprozess "zwischen journalistischer Ethik und publizistischer Glaubwürdigkeit" wurde auch von den Lesern in Print und Online positiv aufgenommen und führte zu vielen Rückmeldungen.

Reflexionsprozesse

Die Debatte im STANDARD ist nicht das einzige, aber doch ein rares Beispiel in Österreich, bei dem Medien ihre Reflexionsprozesse öffentlich darstellen. Geht es nach Larissa Krainer, die an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt im Bereich Medienethik forscht und lehrt, sollten solche Debatten um das eigene Selbstverständnis der Medien häufiger an die Öffentlichkeit getragen werden.

"Die Menschen interessiert es zunehmend, nach welchen Regeln sie Informationen bekommen", sagt Krainer. Das hat auch mit der veränderten Rolle der Bürger im Kontext der Mediengesellschaft zu tun: "Vor 20 Jahren hätte eine solche Debatte vielleicht noch nicht solch ein Interesse hervorgerufen. Die Leute interessiert das, weil sie selbst in sozialen Medien oder als Blogger zu Informationsproduzenten werden."

Ethische Fragestellungen

Krainer, die auch Sprecherin des 2015 in Wien gegründeten Interdisziplinären Zentrums für Medienethik ist, war eine der Vortragenden beim Symposium Medienethik an der Fachhochschule St. Pölten, das dort vor kurzem vom Department Medien & Wirtschaft in Kooperation mit dem Interdisciplinary Media Ethics Center (IMEC) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) veranstaltet wurde.

Zur Debatte standen die "moralischen Konsequenzen wirtschaftlicher und technologischer Disruptionen". Die Nachrichtenkanäle und -formate genauso wie die Organisationsformen und Wirtschaftsmodelle der Medien, nicht zuletzt ihre Einbettung und Funktion in der Gesellschaft verändern sich und werfen neue ethische Fragestellungen auf.

Neuer Regelungsbedarf

"Es gibt die Tradition in der einschlägigen Forschung, immer die Journalisten zu kritisieren nach dem Motto: Deren Moral muss gut sein, dann ist der Journalismus gut", erklärt Krainer. "Es gibt aber viele Fragestellungen, die nicht in der journalistischen Verantwortung liegen, sondern bei denen der Regelungsbedarf auf der Ebene der Organisation liegt."

Im Fall der Nennung der Nationalitäten bei Straftaten sollte sich nicht jeder Journalist bei jedem Anlass den Kopf zerbrechen müssen, welche Lösung im Moment die richtige sei – ob man mit der Nennung zum Teil eines Stigmatisierungsprozesses wird, der das gesellschaftliche Bild prägt, oder ob es der Glaubwürdigkeit des Mediums schadet, weil die Information in den sozialen Medien längst die Runde gemacht haben.

"Eine interne Richtlinie könnte hier Orientierung geben", schlägt Krainer vor, "eine Richtlinie, die im Kollektiv der Redaktion erarbeitet wird und auch über den Haufen geworfen werden kann, wenn man gemeinsam zu einem neuen Befund kommt."

Die Widersprüche in der Medienwelt könnten mit derartigen Entscheidungsfindungen besser ausbalanciert werden. Das sei besser, als sie alten Logiken zu überlassen, die eindeutige, vermeintlich allzeit richtige Entscheidungen einfordern. Im Kontext von Wirtschaftlichkeit und Qualität, von Recherchequalität und schnellstmöglicher Informationsweitergabe sind dabei wohl einige Balanceakte fällig.

Kerngeschäft gesucht

Gerade die Vielstimmigkeit, die die Digitalisierung und die sozialen Netzwerke erzeugt haben, provoziert Verschiebungen im Berufsbild des Journalisten. Partizipation in Foren und Social Media veränderte die Informationsweitergabe an eine Masse von Menschen bis hin zu einem "One-to-one-Journalismus", sagt Krainer. "Ich bin nicht sicher, ob noch gut geklärt ist, was das Kerngeschäft des Journalismus eigentlich ist."

Gesicherte Information

Die Vielstimmigkeit stellt auch neue Anforderungen an das Medium als eine Instanz, von der gesicherte Informationen bezogen werden können. Die Glaubwürdigkeit muss – siehe oben – immer wieder neu erkämpft werden, noch dringender in den Personality-Webs der Zukunft, in denen die eigenen Vorlieben entscheiden, welche Inhalte man überhaupt zu Gesicht bekommt.

In der Frage der Zugänglichkeit von Wissen beobachtet Krainer einerseits hohe Einstiegshürden bezüglich der aktuellen Wirtschafts- oder Politikberichterstattung. "Viele meiner Studierenden tun sich schwer, tägliche Artikel in diesem Bereich zu verstehen." Andererseits werden die Formate in vielen Medien immer kürzer und liefern weniger Hintergrund, Archive werden gesperrt und Bezahlschranken diskutiert. "Wir haben ohnehin schon eine Wissenskluft, die durch die technologische Zugänglichkeit geprägt ist", sagt Krainer. Der Ausschluss einer breiten Masse berge die Gefahr einer neuen Elitenbildung.

Der Verfügbarkeitsgedanke betreffe auch den öffentlich-rechtlichen ORF, bei dem Inhalte sieben Tage lang online verfügbar bleiben. Auch diese gesetzlich geregelte Maßnahme, die ungleiche Marktverhältnisse verhindern soll, müsse immer wieder neu diskutiert werden. Krainer: "Der Bildungsauftrag muss sich auch an die digitale Gesellschaft anpassen." (Alois Pumhösel, 2.3.2016)