Der renommierte Zeithistoriker und Kenner des Nationalsozialismus Gerhard Botz ist mit zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema hervorgetreten. Er war auch in den Komitees für die Wehrmachtsaustellung und für das Haus der Geschichte. Als Chef des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Historische Sozialwissenschaft betreute er auch die umfangreichste neuere Darstellung des Waldheim-Komplexes (Cornelius Lehngut: Waldheim und die Folgen. Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich).

Botz hat hat in einem (unveröffentlichten) Vortrag auch ausführlich zur "Nach-Waldheim-Ära" Stellung genommen und kommt zu einem gemäßigt positiven Schluss: "Zunächst wurde von vielen Waldheim-Kritikern übersehen, dass in Österreichs Geschichtsbewusstsein doch ein Lernprozess einsetzte. Von größter Bedeutung dabei wurde, dass es zunächst der damalige Bundeskanzler Vranitzky selbst war, der Ideen der Waldheim-Kritiker und mancher Historiker aufgriff. Er gab Anfang der 1990er-Jahre öffentliche Erklärungen über Österreichs NS-Vergangenheit im Wiener Parlament und dann in Jerusalem ab, die auf eine Übernahme von Verantwortung für die Beteiligung so vieler Österreicher am NS-Regime und an dessen Verbrechen hinausliefen, und er entschuldigte sich dafür als Regierungsoberhaupt. Damit und durch eine ähnliche Erklärung von Thomas Klestil, dem Amtsnachfolger Waldheims, vor der Knesset wurde nicht nur im Ausland das Eis der partiellen Isolierung Österreichs gebrochen, auch im Inneren begann ein zweigeteilter Wandel der politischen Kultur Österreichs."

Der Wandel war allerdings zweigeteilt. Einerseits entstand so etwas wie eine vergangenheitskritische Öffentlichkeit, andererseits "verschob sich das politische Spektrum nach rechts, verbunden mit dem Aufstieg der rechtsnationalistischen, populistischen FPÖ".

Ab Mitte der 1990er-Jahre sei es auch zu teilweiser "Wiedergutmachung" der in den Jahrzehnten davor schändlich verschleppten "echten Wiedergutmachung" gekommen: etwa die Restitutionen "arisierten" Eigentums und weitere Entschädigungs- beziehungsweise Anerkennungszahlungen für Juden, Zwangsarbeiter und andere Verfolgte des Nationalsozialismus. "Eine solche materielle 'Wiedergutmachungspolitik', die mehr als ein halbes Jahrhundert lang in Österreich zögerlich und halbherzig gewesen war, war nur denkbar und innenpolitisch möglich geworden, weil ein neues Österreich-Bild aus dem vielschichtigen und erbitterten Ringen um die Deutungshegemonie der Vergangenheit und der zukünftigen Politik hervorgegangen ist."

Botz weist allerdings darauf hin, dass dies "nicht immer aus purer Einsicht und Selbstlosigkeit" geschehen sei. Er zitiert den ehemaligen FPÖ-Staatssekretär Eduard Mainoni, der 2004 offen erklärte, man habe "überlegt: 'Okay. Wie viele Milliarden kostet uns das?' Und dann haben wir das gemacht. Damit haben wir im Prinzip den Rücken frei gehabt gegenüber den jüdischen Organisationen."

Der Meinungswandel in der Bevölkerung lässt sich übrigens auch am Grad des Antisemitismus ablesen. Nach einer Studie von Christian Haerpfer (Institut für Konfliktforschung) antworteten im Jahr 1973 auf die Frage "Würden Sie sagen, dass es besser sei, keine Juden im Land zu haben?" 21 Prozent mit Ja und nur 47 Prozent mit Nein. 1988, im "Gedenkjahr", sank dieser Wert auf elf Prozent (Nein: 71 Prozent), um 1989 wieder auf 13 Prozent Ja anzusteigen.

Botz wertet die Errichtung des Österreichischen Nationalfonds und die Historikerkommission zur Untersuchung der (weitreichenden) Vermögensentzüge und (bisher zurückhaltenden) Restitutionen als Kurswechsel in der österreichischen praktischen Vergangenheitspolitik, ebenso wie die Gedenkstättenpflege und die Erinnerungskultur. Dem "kollektiven" Vergessen und Beschweigen sei nun eine Art "Hypermnesie" (Über-Erinnerung) gefolgt. "Es hat sich eine 'Mitverantwortungsthese' beziehungsweise 'modifizierte Opferthese' durchgesetzt, die für die Existenz einer, verschiede- ne politische Richtungen und Generationen umfassenden, nationalen Erinnerungsgemeinschaft spricht." (rau, 27.2.2016)