Wo denn die Lobau-Fotos blieben, fragte Doris Rittberger vergangenen Freitag. Langsam werde es nämlich eng. Das, was ich bisher geliefert habe, seien nette Amateurschnappschüsse, aber mit Laufen habe es nichts zu tun: Picknickdecken, Kinderwägen und Fahrräder. "Du weißt schon, dass das ein Laufbuch wird?", fragte meine Verlegerin.

Ich hatte gewusst, dass ich mich auf Dauer nicht würde drücken können. Andererseits: So war die Frage, wohin der Lauf am Sonntag gehen würde, geklärt …

Foto: Thomas Rottenberg

Mit der Lobau hab' ich es nicht so. Die ist nämlich weit weg, wenn man in der Stadt nicht mit dem Auto fahren will.

Dass das gleich doppelter Blödsinn ist, weiß ich selbst: Sogar als die U2 noch nicht auf die Insel kreuzte, war die Lobau nur dann weit weg, wenn man sich darauf versteifte, an der Reichsbrücke aus der U-Bahn zu steigen – und nicht Bus fahren wollte. Abgesehen davon: Wenn auf dem Trainingsplan ein langsamer 30-Kilometer-Lauf steht, wäre auch das wurscht.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Sonntag war komisch. Wettertechnisch. Irgendwie ist mein Kopf darauf eingestellt, dass im Februar Winter ist. Wenn es da Temperaturen hat, bei denen ich schon nach dem ersten Kilometer die Jacke ausziehe und froh bin, die kurze Hose genommen zu haben, stimmt etwas nicht.

Das ist Prägung. Genauso wie meine Einstellung zum Grillen: Das gehört in den Sommer. Das sagte ich auch dem Mann, der da Fleisch über die Glut hielt. "Blödsinn", antwortete er, "Grillen ist eine Frage der Einstellung, nicht der Jahreszeit." Dann zeigte er auf das tote Tier über der Glut: "Willst du kosten?"

Foto: Thomas Rottenberg

Die Lobaurunde also. Fotos!, hatte die Verlegerin gemahnt. Mit Laufbezug. Die Sache ist die: Ich schreibe gerade ein Laufbuch. "Wien rennt" wird es heißen. Es soll in Rittbergers kleiner, aber feiner – und erfolgreicher – Wild-Urb-Reihe erscheinen. Nicht für Spezialisten, nicht für Hardcore-Läufer, nicht für Leistungssportler, sondern dort angesiedelt, wo Jederfrau- und Jedermannläufer daheim sind: 16 einfache Routen. Zehn Servicekapitel. Niederschwellig. Fotolastig.

Foto: Thomas Rottenberg

"Fotolastig" ist einfach. Dass ich die Gopro auf "Dauerfeuer" schalte und entweder aus der Hand knipse oder die Kamera ablege, ist kein Geheimnis: Es ist keine Frage des Könnens, sondern der Statistik, dass unter 2.000 Bildern eine Handvoll nicht verwackelter sein werden. Speicherplatz kostet nichts. Hochladen geht automatisch, während ich dusche. Durchscannen und auf 100 reduzieren dauert drei Minuten.

Foto: Thomas Rottenberg

"Niederschwellig" ist auch leicht: Auch wenn ich 30 Kilometer auf dem Plan hatte und ein bisserl weiter als vom Roten Hiasl über Nationalparkhaus und Josefsteg zur Panozzalacke laufen würde, sind solche Routen das Um und Auf jedes Guides, der Menschen Lust aufs Laufen machen soll: Wer U4–U4, "rundumadum" oder die äußere Lainz-Runde rennt, braucht weder Tipps noch Routen noch Motivation. Wenn man Anna Normalverbraucherin und Otto Durchschnitt vom Sofa wegholen will, muss man aber lösbare Aufgaben anbieten. Das vergessen wir Langstreckenjunkies, wenn wir uns gegenseitig Zeiten und Weiten um die Ohren schnalzen.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber genug davon. Ich bin kein Lobau-Kenner. Der Vorteil eines "dienstlichen" Besuchs liegt daher auf der Hand: Man schaut genauer. Etwa auf den Josefsteg: ein "Boardwalk" durchs Schilfmeer, ja eh. Aber dass da am Anfang eigens eine Tafel angebracht ist, auf der für die Nachwelt festgehalten ist, dass der Steg im Jahr 2001 von der Pioniertruppenschule Klosterneuburg (1. Kompanie Pionier-Bataillon 3 Melk) errichtet wurde, habe ich bisher nicht wahrgenommen. File under "nutzloses Wissen" – aber ich steh' auf derlei Gehirnballast.

Foto: Thomas Rottenberg

Apropos nutzloses Wissen: Hier im Gelsen- und Nudistenparadies wurden Legenden geschaffen. "Waluliso" etwa, der längst verstorbene selbsternannte Friedensapostel Wiens, war hier zugange, lange bevor die insgesamt 22 Quadratkilometer 1996 Teil des Nationalparks Donau-Auen wurden.

Foto: Thomas Rottenberg

Außerdem führt die Lobau – neben ein paar anderen Titeln – das Etikett Europaschutzgebiet und Europäisches Vogelschutzgebiet und ist von der Unesco als Biosphärenreservat anerkannt.

Ja eh: Mir ist all das so wie Ihnen vollkommen wurscht. Andererseits sind es genau diese Labels und Punzen, die über Umwege dazu führen, dass solche Regionen wertgeschätzt werden. Etwa indem man Lehr- und Beobachtungspfade errichtet, auf denen Kinder … und so weiter. Wobei: nicht nur Kinder. Vermutlich wissen Volksschüler mehr über die Tiere und Pflanzen im Auwald als ihre Eltern. Weil die verlernt haben, neugierig zu sein.

Foto: Thomas Rottenberg

Laufen, vor allem gemächliches und langsames Laufen ist da ein gutes Antidot. Zum einen, weil man dabei intellektuell nicht wirklich gefordert wird: Man hat jede Menge Zeit, zu schauen und zu entdecken. Nichts Großes, nichts Sensationelles. Aber die Liebe zu und die Wertschätzung für die kleinen Wunder am Wegesrand lässt sich bei Läufen durch einen Auwald, in dem man sich wegen der Qualität der Wege keine Gedanken machen muss, sehr schön pflegen.

Foto: Thomas Rottenberg

Ganz abgesehen davon frischt die Lobau den Geschichtsunterricht wieder auf. Irgendwas war da ja mit Napoleon. Franzosen. Aspern. Der Geschichtslehrer witzelte damals, dass der Mai 1809 ein bisserl so sei wie "Asterix": Dass Napoleon hier seine erste Schlacht verlor, wird gerne erwähnt. Dass er Wien da längst erobert hatte und Erzherzog Karls Truppen zwei Monate später bei Wagram noch einmal besiegte? "Niemand weiß, wo Alesia liegt!"

In der Lobau stehen Erinnerungsobelisken im Wald – abseits der "kurzen" Basisroute.

Foto: Thomas Rottenberg

Es war ein seltsamer Tag: viel zu warm für Februar. Die Jacke im Rucksack. Mütze und Handschuhe sowieso. Auch die Ärmlinge wanderten rasch in Richtung Handgelenk. Und nicht einmal meine strenge Trainerin hätte mich heute darauf hingewiesen, dass kalte Knie im Winter keine gute Idee sind. Frühling im Februar: Irgendetwas ist aus den Fugen geraten.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich lief alles andere als schnell. Fotos machen kostet auch Zeit, wenn man nur kurz bremst oder zurückläuft. Für einen runden Rhythmus ist das nix. Außerdem waren mir die breiten Wege bald zu fad: Ich hatte mir vorgenommen, mich nicht einfach treiben zu lassen – aber die schmalen Pfade sind immer spannender: Bis zur Halbzeit würde ich spielen – und dann schauen, wo ich war. Weil: Wirklich verlaufen kann man sich in der Lobau ja nicht. Es wird nur manchmal länger. Aber so stand das auch im Plan.

Foto: Thomas Rottenberg

Ans Wasser führen meist die kleinen, schmalen und verschlungenen Wege. Dort wird die Landschaft dann wieder ein bisserl weiter – und malerisch-idyllisch. Langsam begann ich zu verstehen, warum die Hippies und ersten FKK-Pioniere sich in den 60er- und 70er-Jahren hier so wohlgefühlt haben: Hier findet jeder sein Platzerl. Und seine Gelse.

Foto: Thomas Rottenberg

Hatte ich mich auf den Wanderwegen noch dafür gescholten, hohe Stutzen angezogen zu haben, war ich jetzt zufrieden: In Kompressionsdebatten mische ich mich nicht ein. Da gilt, dass des Menschen Glaube sein Himmelreich ist. Aber beim Laufen durch Buschwerk und hohes Gras, in dem sich auch dorniges Zeig versteckt, liebe ich hohe Socken. Und auch wenn die Schuhe – flache, leichte Temposchuhe – hier (und an Gatschböschungen) an ihre Grenzen stießen, war es die richtige Kombi: Auf langen, flachen, ebenen Strecken wäre alles andere Ballast.

Foto: Thomas Rottenberg

Nach ziemlich genau 18 Kilometern spuckte der Auwald mich dann an der Donau aus. Genauer: am Damm. Bis hierher war es ein feiner, nicht wirklich fordernder Lauf gewesen. Ich laufe lange Strecken zwar gerne in Gesellschaft, aber manchmal sind Solos das, was der Kopf braucht.

Jetzt aber wurde es mühsam: Der Wind blies ganz schön stark flussabwärts. Sowohl neben dem Damm als auch auf der Dammkrone.

Foto: Thomas Rottenberg

Dieser Teil ist stinklangweilig. In jeder Hinsicht: Ein Ölhafen mit Industriezone riecht nicht nach Lavendel und Frühling in der Provence. Und der Wind legte zu. Meine Lust aufs Weiterlaufen sank mit jedem Schritt gegen und dann unter null. Nur: Was wäre Plan B?

Jetzt rächte sich, dass ich nüchtern von daheim losgelaufen war – und nur zwei Riegel hatte. Einen halben musste ich aufheben: Noch acht Kilometer – und zwar gegen den Wind. Wääää!

Foto: Thomas Rottenberg

Bei der Panozzalacke stieß ich wieder auf meine "Originalroute". Napoleons Hauptquartier. Der Betonblock ist natürlich jünger: ein Bunker aus der Nazizeit. Das Fachvokabel lautet "Salzgitterbunker" – die übliche Bauart in der Nähe von Industrieanlagen. Bis 2002 soll man über ein kleines Loch an der Seite noch hineingekommen sein. Wobei es schon damals außer Dreck und Schmierereien in dem ausgebrannten Relikt nichts zu sehen gegeben hat.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich hatte keine Lust, auf der Raffineriestraße oder entlang der Donauinsel gegen den Wind zu kämpfen, und schlängelte mich die schmalen Waldpfade entlang. Durch Unterholz und Gebüsch, gatschige kleine Wälle rauf und runter. Der Dreck, der da verstreut lag, überraschte mich nicht weiter: Zwischen Parkplatz und Straße, im Schatten eines Bunkers, ist nichts anderes zu erwarten.

Foto: Thomas Rottenberg

Plötzlich lag da wer. Mitten am Weg. Der Mann war von der Hüfte abwärts nackt. Er trug einen Pulli – und eine Maske. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sein Geschlecht mit den Händen zu bedecken, sondern brüllte los: "Oida, wos wüst du do? A jeda was: Des is a Cruisingarea! Putz di, oba flott!"

Auch wenn es ein milder Tag war: Februar. Winter. Nasskalter Boden. Kein Laub. Kein Sichtschutz. Welcher Irre käme da auf die Idee, in der Lobau herumzuliegen und auf schnellen Zufallssex zu hoffen?

Weit und breit war ja auch niemand – aber beim Weiterlaufen sah ich dann doch eines: Der Müll war hier "monothematisch". Boden und Büsche waren mit Kondomen komplett "vermint".

Foto: Thomas Rottenberg

Ich hatte kein Lust auf weitere Überraschungen und folgte den Gleisen in Richtung Stadt. Zwischen den beiden (am Sonntag toten) Verschubsträngen ist Laufen zwar ein bisserl mühsam, aber doch spannender als oben bei den Autos oder im Wind auf dem Damm.

Foto: Thomas Rottenberg

Und dann konnte ich nicht anders: Ich weiß, dass es lebensgefährlich und aus tausend guten, vernünftigen Gründen streng verboten ist. Ich weiß, dass man als Erwachsener Kinder und Halbwüchsige nicht auf idiotische Ideen bringen soll. (Wobei: Die brauchen uns dafür nicht.) Aber ich weiß noch etwas: Wenn man irgendwo raufklettern kann, will ich rauf. Auch wenn es nichts zu sehen gibt. Also versicherte ich mich zweimal, dass hier keine Oberleitung läuft – und hatte dann tatsächlich eine Zehntelsekunde lang wieder dieses Teenage-Sehnsucht-Jack-London-Gefühl.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Rest des Weges war unspektakulär. Hinauf zur U2, dann unter der Tangente hinüber in den Prater und die Hauptallee hinauf. Dort war am Sonntag "Eisbärlauf". Kurz bevor ich gegen die Laufrichtung zum Zielbogen kam, sprang meine Uhr auf die 30. Die Synchronität war Zufall. Aber irgendwie nett.

Foto: Thomas Rottenberg

Austraben. Beine ausschütteln. Auf der PHA geht das an solchen Sonntagen super: Sie ist ein Dorfplatz – nicht nur für Läufer. Aber die Herren Edlinger und Grissemann hätte ich doch fast übersehen, obwohl wir vor 25 Jahren täglich im gleichen Zimmer saßen. Aber das ist eine andere Geschichte. Und so lange her, dass sie beinahe nicht mehr wahr ist.

Foto: Thomas Rottenberg

Das Buch "Wien rennt" soll rund um den Vienna City Marathon, also Anfang April erscheinen. (Thomas Rottenberg, 25.2.2016)