Das 17jährige österreichische Model Stella Lucia hat die Modewelt mit Schmollmund und spitzem Kindchengesicht erobert. Hier ist sie in der aktuellen Sommerkampagne von Marina Hoermanseder zu sehen.

Foto: Stefan Armbruster

Alien, Gremlin, Gottesanbeterin: Das Model Molly Bair hat in seinem Leben schon einige Spitznamen bekommen. Bair ist knochige 1,83 Meter groß, ihre Augen stehen weit auseinander, sie schaut drein wie ein trotziges Kind, und Segelohren hat sie auch.

Ausgerechnet diese knapp zwanzigjährige Amerikanerin, die vor rund zwei Jahren auf einem New Yorker Flohmarkt entdeckt wurde, zog Aufträge für Chanel, Dior, Prada an Land. Am wenigsten hat sie selbst damit gerechnet. Dass "ein Mädchen, das seine Kindheit mit zusammengewachsenen Augenbrauen verbracht hat, irgendwann in der "Vogue Italia" zu sehen sein wird", sei doch unglaublich, erzählte sie dem amerikanischen Sender CNN im letzten Jahr. Ihr Aufstieg glich einem Raketenstart, die gewichtige Website "Models.com" listet das Model mit den Segelohren heute unter die Top 50.

Bairs Erfolg führt vor, dass kantige Modeltypen hoch im Kurs sind. Wenn die Körpermaße stimmen, gelten Abweichungen als modern, frisch, zeitgemäß. Die vermeintlichen Makel, die Segelohren, die überlaufenden Schmollmünder, die abrasierten Haare adeln die Mädchen zu einzigartigen Geschöpfen. Daniel Peddle, Castingdirektor bei Givenchy, gab letztes Jahr gegenüber der "Vogue" die Devise aus: Individualität ist Trumpf.

Wie elegant sich mit individuellen Gesichtern ein Unternehmensimage verschieben lässt, haben nicht zuletzt bei Gucci die Castings unter dem neuen Designer Alessandro Michele vorgeführt.

Typen vor

An Symmetrie hat sich die Modewelt längst sattgesehen. Und an den wenigen immergleichen Köpfen auch. "Den bekannten Social-Media-Models wie Gigi Hadid und Kendall Jenner muss etwas entgegengesetzt werden", sagt Wolfhard Münter von der Hamburger Agentur Mega Model. Markante Mädchen wie die Russin Liza Ostanina zum Beispiel mit ihrer leicht gekrümmten Nase oder Marjan Jonkman mit ihren fedrigen sauerstoffblonden Haaren.

Wie individuelle Abweichung zur Auszeichnung wird, können sich diese Newcomer von Cara Delevingne abschauen. Die kräftigen Augenbrauen wurden zu ihrem Alleinstellungsmerkmal. Delevingne hat das Selbstverständnis von Models ein Stück weit verändert. "Kaum ein Mädchen, das bei unserer Agentur anklopft, hat heute keinen Instagram-Account", erklärt Modelagent Münter.

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Molly Bair hat Segelohren, Newcomerin Caroline Sommersprossen und Ruth Bell abrasiertes Haar.
Foto: Reuters/Charles Platiau, APA/EPA/Langsdon

Bei Molly Bair, deren flächiges Gesicht rechts und links von zwei in die Welt hinausragenden Ohren gerahmt wird, ist das nicht anders. Sie zeigt auf Instagram (genauso wie das Model Cara Delevingne) gern die Zunge, kokettiert mit ihrem Spitznamen "Gremlin", postet schräge Kinderbilder oder albert mit Modelkollegin Stella Lucia Deopito herum. Die österreichische Modelnewcomerin zählt zu den alienhaften Aufsteigerinnen. Sie hat mit 14 ihre ersten Shootings bestritten, jetzt, zwei Jahre später, ist sie mit ihrem spitzen Kindchengesicht schon in den ganz großen Kampagnen von Chanel bis Givenchy zu sehen. Ihr Alleinstellungsmerkmal: ein übergroßer Schmollmund, den viele Fotografen als Lolita-Fantasie inszenieren.

Dass die Modeindustrie physische Besonderheiten hochhält, bedeutet nach lange nicht, dass sie Sexismen und das dünne Körperideal ablehnt. Ein kritisches Infragestellen diskussionswürdiger Schönheitsideale sieht anders aus, Models mit Makeln sind so dünn wie eh und je: Die magere Molly Bair gilt auf "Pro Anorexia"-Websites, auf denen junge Mädchen den dünnen Körper feiern, als #thinspiration.

Haare ab

Auch der radikale Sinéad-O'Connor-Look erlebte in den letzten Saisonen eine Blüte auf den Laufstegen. Models, die keine Lolitalippen, gekrümmte Nasen oder Segelohren haben, rasieren sich die Haare ab. "Zehn Jahre lang gab's nur lange Haare, lauter Giselles", meint Münter von Mega Model. Jetzt seien Kurzhaarfrisuren unter den Models viel verbreiteter. Als Gegenentwürfe zu den langhaarigen Social-Media-Schwergewichten tauchen immer mehr Kahlköpfe auf. So wie Ruth Bell, die im letzten Herbst vom britischen "Telegraph" zum "coolest British Model on the block" gekürt worden ist. Für eine Kampagne von Alexander McQueen hatte sie ihr langes blondes Haar gelassen.

Der Kahlschlag ist als edgy Karriere-Katalysator aufgegangen: Hedi Slimane, seit jeher Jugend- und Subkulturellem verhaftet, buchte Bell als Gesicht für Saint Laurent. Mittlerweile ist die Auswahl an rasierten Models so groß, dass jeder Designer seine eigene Kurzhaarausgabe buchen kann. Louis-Vuitton-Designer Nicolas Ghesquière bevorzugt Tamy Glauser, die Deutsche Kris Gottschalk wurde im letzten Jahr für die Show von Riccardo Tisci in New York blondiert, für Tods liefen die Zwillinge Camilla und Giulia Venturini.

Der Trend hat längst Agenturen im deutschsprachigen Raum erreicht. Die Agentur PMA Models hat Lina Hoss unter Vertrag, bei Stella Models in Wien ist die mit dem kurzen Schopf 19 Jahre alt und heißt Annabelle Mödlinger, bei Mega Model hört der Kurzhaarschnitt auf den Namen Magali. "Sie hatte lange Haare, wir haben uns dann für einen Cut entschieden", so Münter. Einige High-Fashion-Häuser haben seither schon angebissen.

Die Diversität unter den Models nimmt zu, das bestätigt auch Eva Gödel von der Männermodel-Agentur Tomorrow Is Another Day. Bei den Männern ging das schon vor Jahren los. Gödel gabelt ihre Buben, oft noch Schüler, im Supermarkt und sonst wo im Alltag auf. Sie macht dann ein Foto und sorgt nicht selten für Erstaunen. "Die Jungs, die ich anspreche, sind nicht die, die von den Mädchen angehimmelt werden."

Benno, Callum und Florian arbeiten für die Agentur Tomorrow is Another Day.
Foto: Tomorrow Is Another Day

Als sie vor rund 15 Jahren begann, ihre erste Agentur aufzubauen, "dominierte noch der Cool-Water-Mann", jener braungebrannte, muskulöse Mister Perfect. Die Situation sieht längst anders aus. Die Agentin versorgte als Erste von Köln aus Designer wie Raf Simons und Hedi Slimane mit androgynen Männermodels: Sie haben eine Hühnerbrust, ein fliehendes Kinn, eine stolze Nase.

Heute laufen Models wie Benno, Florian, Callum nicht mehr nur für Raf Simons oder Hedi Slimane, heute wollen viele Designer diese "unvollkommenen" Buben.

Streetcastings

Gödels Agentur, die 250 Männermodels im Portfolio hat, castet alle Models konsequent auf der Straße. Damit liegt die Agentur im Trend. Das Streetcasting haben Designer wie Demna Gvasalia in den letzten Saisonen wiederentdeckt. Gvasalia, Chefdesigner bei Balenciaga, für sein Label Vêtements. Wenn er und seine angesagte Clique rund um die Stylistin Lotta Volkova und den Fotografen Harley Weir Models nicht via Facebook oder Instagram gesucht haben, streunte das Team auf der Suche nach außergewöhnlichen Modeltypen durch Pariser Bars.

Dass es bei den Frauen spezieller zugeht, mag auch damit zu tun haben, dass Männer- und Frauenmodels wie bei Prada, Gucci oder Burberry zunehmend gemeinsam auftreten. Die Castings spielen mit Geschlechterstereotypen, kontrastieren langhaarige Männer mit kurzrasierten Models wie Ruth Bell.

Lesbische Ikone

Von diesen Entwicklungen profitieren Models wie die Schwedin Erika Linder, die sich auf Instagram "Richie Phoenix" nennt. Sie kann einmal wie James Dean, ein andermal wie Kristen Stewart aussehen. In den letzten Jahren hat sich ihre Wandlungsfähigkeit bezahlt gemacht. Linder trat als eine der Ersten Seite an Seite mit den männlichen Kollegen auf und wurde auch als Frauenmodel gebucht. Ob Tom Ford oder Louis Vuitton, sie alle haben die lesbische Ikone schon engagiert. Linder hat eine eigene Fancommunity, verkauft über ihre Website T-Shirts und Kapuzenpullover und hat einen Draht zu anderen Konsumentengruppen – und genau deshalb braucht die Mode wohl Typen wie sie.

Dass das Bedürfnis nach dem Unkonventionellen auf das Frauensegment übergreift, lässt sich am erwachtem Interesse von Eva Gödels Agentur an weiblichen Models ablesen. Ihr ganzer Stolz: Caroline, 16 Jahre alt, volle Lippen, jede Menge Sommersprossen. Eine klassische Schönheit ist sie nicht. Gerade eröffnete sie in New York die Show des Labels Hood by Air. Ihre feuerroten krausen Haare standen dem großen Auftritt nicht im Weg. Im Gegenteil. (Anne Feldkamp, RONDO, 28.2.2016)