Wien – Im April 2010 hat die Stadt Wien mit der Aufarbeitung eines Kapitels begonnen, das laut Stadträtin Sonja Wehsely (SPÖ) "besser nie geschrieben worden wäre". Nach Bekanntwerden von zahlreichen Fällen sexuellen Missbrauchs sowie psychischer und physischer Gewalt in städtischen Kinder- und Jugendheimen in der Vergangenheit wurde die Opferschutzeinrichtung "Weißer Ring" zur Anlaufstelle erklärt, um Betroffenen mit Therapien sowie finanziell und rechtlich zu helfen. Es kann, sagte Wehsely am Mittwoch, "niemals eine ausreichende Entschuldigung" geben. "Ich sehe es als Pflicht der Stadt, das geschehene Unrecht ohne Relativierung anzuerkennen."
Fristende 31. März 2016
Nach sechs Jahren lässt die Stadt aber per 31. März 2016 die Frist für das Anmelden von finanziellen Entschädigungsansprüchen für in Heimen erlittenes Unrecht und erlittene Qualen auslaufen. Gewaltopfer, die sich bis zu diesem Datum melden, können noch Entschädigung beantragen. Und Personen, die sich später melden, könnten immer noch um die Kostenübernahme von Therapien ansuchen, sagte Wehsely.
Beim "Weißen Ring" langten bisher 2870 Meldungen ein, wovon 2705 Fälle behandelt wurden. In 2048 davon wurden Entschädigungsgelder ausbezahlt, sagte Marianne Gammer, Geschäftsführerin des "Weißen Rings". Insgesamt waren es 36,2 Millionen Euro. Weitere 8,9 Millionen Euro wurden für Psychotherapie-Leistungen bezahlt, dazu kommen 90.000 Euro an Rechtsberatungen.
Durchschnittlich 17.000 Euro
Laut Wehsely erhielten Betroffene im Durchschnitt 17.000 Euro. Udo Jesionek, Präsident des "Weißen Rings", betonte, dass in Deutschland in vergleichbaren Fällen an Gewaltopfer Höchstbeträge von 5000 Euro ausbezahlt wurden. "In Wien waren es bis zu 30.000 Euro."
In acht von zehn Fällen meldeten sich bei der Opferschutzeinrichtung ehemalige Bewohner von städtischen Kinderheimen oder Einrichtungen der Jugendwohlfahrt, die zwischen 1940 und 1969 geboren wurden. Heimreformen hätten danach, vor allem ab 1980, sukzessive Besserungen gebracht. Seit der Heimreform im Jahr 2000 gibt es in Österreich keine Großheime mehr. Der Schwerpunkt wird auf kleine WGs gelegt.
Die aufgelassenen Großheime im niederösterreichischen Eggenburg sowie am Wilhelminenberg wurden von Gewaltopfern, die sich an den "Weißen Ring" wandten, auch am weit öftesten im Zusammenhang mit Übergriffen genannt.
Berichte "erschütternd", "äußerst bestürzend"
Zur Frage, warum interne und externe Kontrollsysteme bei Einrichtungen in Obsorge des Jugendamtes versagt haben, gab die Stadt Wien seit 2010 mehrere Studien in Auftrag. So konstituierte sich im November 2011 etwa die Wilhelminenberg-Kommission. Josef Hiebl von der MA 11 (Jugendamt) nannte die Ergebnisse der Berichte von Betroffenen "erschütternd" und "äußerst bestürzend". Daraus hätten sich auch neun Zivilprozesse ergeben, die noch laufen würden. Ulla Konrad, Mitglied der unabhängigen Opferschutzkommission, sagte am Mittwoch: "Es wurden Leben zerstört und Leben nicht gelebt durch diese Unterbringung in Heimen." Betroffene seien etwa öfter geschieden, öfter in Haft, öfter in Frühpension oder öfter krank.
Nationaler Entschuldigungsakt gefordert
Insgesamt wurden vom Gemeinderat bisher 52,53 Millionen Euro für Entschädigungen genehmigt. Ob dieses Budget auch mit den noch eintreffenden Meldungen hält, darauf wollte sich Wehsely nicht festlegen. "Es gibt keine Grenze nach oben." Im Vorjahr haben sich im Durchschnitt pro Monat 34 Personen beim "Weißen Ring" gemeldet, alleine seit Jänner 2016 waren es 67.
Um sich bei den Betroffenen von gewalttätigen Übergriffen in österreichischen Heimen zu entschuldigen, fordert Wehsely einen "formalen Akt der Entschuldigung der Republik". Sollte das bis Ende 2017 nicht gelingen, werde Wien selbst eine Gedenkzeremonie organisieren. (David Krutzler, 10.2.2016)